Häufigkeit und Schwere von Wirbelsäulenverletzungen
Etwa 6 % aller Verletzungen betreffen die Wirbelsäule. In Deutschland erleiden ungefähr 100.000 Personen pro Jahr eine gravierende Wirbelsäulenverletzung.
Während leichte Unfallfolgen des Bewegungsapparates von der gesetzlichen bzw. der privaten Unfallersicherung häufig ohne Begutachtung abgefunden werden können, gilt dies nicht für die schweren strukturellen Dauerschäden. Sind nur die knöchernen Strukturen, Bänder und Bandscheiben betroffen, so reicht die alleinige unfallchirurgisch-orthopädische Begutachtung aus.
Neurologische Unfallfolgen – neurologische Zusatzbegutachtung
Sind durch das Trauma auch Rückenmark oder Spinalnerven geschädigt worden, so ist eine zusätzliche neurologische Begutachtung unumgänglich. Auch bei Mehrfachverletzungen kann auf eine sorgfältige Befunderhebung und eine individuelle Einschätzung der Dauerfolgen nicht verzichtet werden.
Damit wird einerseits den Interessen der Verletzten Rechnung getragen, anderseits können durch eine sorgfältige Befunderhebung und Dokumentation der Dauerfolgen unnötige und langwierige Auseinandersetzungen vermeiden werden.
Die Abschätzung der Auswirkung einer statischen Veränderung, ja selbst eines neurologischen Ausfalles nach einer knöchern konsolidierten Wirbelfraktur ist relativ einfach. Die Leistungsbeeinträchtigung steht in einem nachvollziehbaren Verhältnis zur unfallbedingten Änderung der Statik (Achsenknick – Beeinträchtigung des sagittalen Profils), der veränderten Belastung von Nachbarstrukturen, den dadurch hervorgerufenen subjektiven Beschwerden und dem objektivierbaren neurologischen Schaden.
Organisch verursachte Schmerzen nach Wirbelsäulenverletzungen
Für das „Symptom Schmerz“ kann dieser Zusammenhang gelten, muss es aber nicht. Wiederholte oder anhaltende Schmerzen nach Wirbelfrakturen sind bei bleibenden Instabilitäten, einer posttraumatischen Einengung des Spinalkanals, Einengungen der Foramina intervertebralia (Nervenaustrittslöcher) und einer stärkeren Fehlstellung unter Belastung zu erwarten.
Organisch verursachte Schmerzen werden reproduzierbar beschrieben und beziehen sich in aller Regel auf eine umgrenzte Region, sie sind lage- und belastungsabhängig und sprechen auf eine Therapie an.
Schmerzen ohne ausreichendes organisches Korrelat
Ein Missverhältnis zwischen Verletzung und vorgetragenen Schmerzen spricht für eine nicht organische Genese des Leidens.
Diese Unterscheidung ist insbesondere in der privaten Unfallversicherung von hoher Bedeutung, da seelische Unfallfolgen von einer Entschädigung ausgeschlossen sind. Die Angabe von heftigen Rückenschmerzen nach einer folgenlos ausgeheilten Verletzung der Wirbelsäule kann nicht ohne weiteres einem Unfall zugerechnet werden.
Wo sind Frakturen an der Wirbelsäule zu erwarten?
Lässt man funktionelle Störungen der Wirbelsäule als Verletzungsfolge außer Acht („Schleudertrauma“), so treten Frakturen häufiger an der Brust- und Lendenwirbelsäule als an der Halswirbelsäule auf. Im oberen Wirbelsäulenabschnitt sind die Verletzungen des 5. und 6. Halswirbelkörpers am häufigsten. An der Brustwirbelsäule sind vor allem der 11. und 12. Wirbelkörper von knöchernen Verletzungen betroffen, an der Lendenwirbelsäule der 1. Lendenwirbelkörper.
Nach einer älteren Statistik von Lob entfallen fast 50% aller Brüche der Wirbelsäule auf den Abschnitt zwischen dem 12. Brust- und dem 3. Lendenwirbelkörper. Häufige Ursache sind Stürze oder Rasanztraumen im Kraftverkehr.
Pathologische Wirbelfrakturen
In höherem Alter können Wirbelkörperbrüche auch ohne Unfallereignis auftreten. Bei alten Menschen reichen unter Umständen raschere Vorneigungen des Oberkörpers oder plötzliche, unbedachte Bewegungen aus, um einen Wirbelkörper einbrechen zu lassen. Betroffen sind vor allem Frauen. Auch das Anheben einer geringen Last (10 kg) kann zu einer Kompressionsfraktur führen.
Die meisten pathologischen Frakturen lassen sich auf eine Osteoporose zurückführen; differenzialdiagnostisch ist an maligne Prozesse zu denken. In diesen Fällen sollte versucht werden, eine bereits früher durchgeführte Knochendichtemessung hinzuzuziehen. Ggf. kann auch eine Knochendichtemessung im Rahmen der Begutachtung erwogen werden.
Welche Unterlagen benötigt der medizinische Sachverständige für die Erstattung des Gutachtens?
Voraussetzung für die Begutachtung ist eine Dokumentation des Krankheitsverlaufes, die von dem Auftraggeber zur Verfügung gestellt werden sollte. Die Ausführlichkeit der Dokumentation und der Aufwand der Datenbeschaffung werden sich je nach Fragestellung erheblich unterscheiden. Je schwieriger die Beurteilung des Zusammenhangs und je bedeutender die Konsequenzen, welche die medizinische Expertise nach sich zieht, umso wichtiger ist die Rekonstruktion der Vorgeschichte.
Nicht immer ist sich der Auftraggeber der Bedeutung der im Krankheitsverlauf erstellten schriftlichen Befunde bewusst. Dabei hängt die Qualität des Gutachtens wesentlich von der Vorarbeit des Sachbearbeiters oder Richters ab.
Befundberichte des Hausarztes und der konsultierten Fachärzte, Kurberichte, Abschussberichte von stationären Heilbehandlungen und Krankenhausentlassungs- und Operationsberichte ermöglichen eine erste Orientierung. Die Ergebnisse früherer Begutachtungen, sei es durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen oder den arbeitsamtsärztlichen Dienst, können das Bild vervollständigen Ein Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse ermöglicht es, die Diagnosen früherer Arbeitsunfähigkeiten zu rekonstruieren.
Was ist zu tun, wenn dem Gutachter keine Originalbefunde vorliegen?
Sofern der Auftraggeber die Unterlagen nicht mit dem Gutachtenauftrag zusendet, kann der Sachverständige den Probanden bitten, die erforderlichen Dokumente nachzureichen.
Kommt der Gutachtenauftrag von einem Gericht, so ist der Arzt nicht befugt, eigenständig Unterlagen anzufordern, es sei denn, dass der Richter den Sachverständigen ausdrücklich dazu ermächtigt. In allen anderen Fällen sollte das Gericht die fehlenden Unterlagen nachreichen.
Checkliste zur Vorbereitung eines Gutachtens bei Wirbelsäulenverletzungen
Der Gutachter benötigt folgende Dokumente, um die Verletzung zu beurteilen
Bei berufsgenossenschaftlich versicherten Unfällen:
In unklaren Fällen und Schwierigkeiten der Abgrenzung von Unfallfolgen gegenüber unfallunabhängigen Erkrankungen sind je nach Fall folgende Dokumente zuzuziehen:
Durchführung der Begutachtung, Aufbau des freien Gutachtens
Für die Begutachtung von Wirbelsäulenverletzungen gelten die allgemeinen Prinzipien für die Erstattung medizinscher Gutachten. Die Grundsätze wurden von der „Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischer Fachgesellschaften“ (AWMF 2019: Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung) detailliert dargestellt.
Für die fachliche Beurteilung können – neben der wirbelsäulenchirurgischen Spezialliteratur – die Grundlagenwerke für die orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung hinzugezogen werden.
Aufbau und Inhalt eines freien Gutachtens bei Wirbelsäulenverletzungen
Kurze Einleitung mit Angabe des Rechtsgebietes, des Auftrags- und Untersuchungsdatums und der Fragestellung
Vorgeschichte nach Aktenlage
Jedes medizinische Dokument wird kurz dokumentiert. Dabei gilt folgende Reihenfolge:
Datum – Quelle – Aussage
Vorgeschichte nach Angaben des Probanden – Eigenanamnese
Beschwerden am Untersuchungstag
Untersuchung
Die Untersuchung erfolgt je nach Gutachtenauftrag so ausführlich wie erforderlich.
Technische Untersuchungsbefunde
Die technischen Untersuchungsbefunde sind durch den begutachtenden Arzt im Original einzusehen und zu befunden. Sofern nur schriftliche Befunde zur Verfügung stehen, ist hierauf besonders hinzuweisen.
Zusammenfassung und Beurteilung
Dieser Abschnitt ist der wichtigste Teil des Gutachtens. Der Sachverständige rekonstruiert das Unfallereignis, die erlittenen Verletzungen und den Behandlungsverlauf. Es schließen sich die Diagnosen mit den funktionellen Beeinträchtigungen an. Die Einschätzung der MdE in der gesetzlichen Unfallversicherung und der Invalidität in der privaten Unfallversicherung erschließen sich zwanglos aus den Funktionseinschränkungen.
Aufgabe des orthopädisch-unfallchirurgischen Gutachters: Feststellung der organischen Unfallfolgen
Da Wirbelsäulenbeschwerden weit verbreitet sind, ist es Aufgabe des orthopädisch-unfallchirurgischen Gutachters, die organischen Unfallfolgen von unfallunabhängigen Beschwerden abzugrenzen. Die Untersuchungsergebnisse sind mit den subjektiven Beschwerden – und gegebenenfalls mit dem Unfallereignis – in Beziehung zu setzen.
Distorsionen und Prellungen ohne strukturelle Schäden an Hals-, Brust- oder Lendenwirbelsäule heilen wie andere Weichteilverletzungen im Verlauf weniger Tage bis Wochen vollständig aus. Die kontinuierliche Zunahme von Beschwerden nach geringfügigen Traumen kann nicht organisch begründet werden.
Das abschließende Urteil des traumatologischen Gutachters kann sich nur auf gesicherte Unfallfolgen – den unfallbedingten Körperschaden – gründen. Subjektive Einschätzungen, paramedizinische Erklärungsversuche und unbewiesene Hypothesen sind abzulehnen. Angesichtes der weiten Verbreitung von Wirbelsäulenleiden ist die subjektiv angegebene zeitliche Koinzidenz zwischen Beschwerden und Unfallereignis nicht ausreichend, um eine Kausalität zu begründen.
Stehen Beschwerden mit dem zu erhebenden organischen Befund nicht in Übereinstimmung, so ist darauf hinzuweisen. Gegebenenfalls ist eine nervenärztliche Zusatzbegutachtung zu empfehlen.
Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Rheumatologie, Sozialmedizin
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