Die Begutachtung des Zusammenhangs zwischen Trauma und Bandscheibenvorfall

Der Gutachter wird immer wieder mit der Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Trauma und Bandscheibenvorfall konfrontiert. Angesichts der weiten Verbreitung von Rückenbeschwerden, der Häufigkeit asymptomatischer Bandscheibenvorfälle und der biomechanischen Eigenschaften der Zwischenwirbelscheiben ist eine sorgfältige Prüfung, die sowohl das Unfallereignis als auch das klinische Bild umfassend berücksichtigt, unverzichtbar.

Um bei der Beantwortung des Zusammenhangs zwischen Trauma und Bandscheibenvorfall zu einer dem Einzelfall gerecht werdenden Beurteilung zu kommen, ist ein systematisches Vorgehen unerlässlich. Für die unterschiedlichen Rechtgebiete gelten jeweils spezifische Kausalitätskriterien:

  • In der gesetzlichen Unfallversicherung sind diejenigen strukturellen Veränderungen und Funktionseinschränkungen von Belang, für die der Unfall wesentlich ist.
  • Demgegenüber sind in der privaten Unfallversicherung seit 1988 (ab AUB 88) Schädigungen an den Bandscheiben vom Versicherungsschutz ausgeschlossen, es sei denn, das Unfallereignis ist überwiegende Ursache der Bandscheibenschädigung.

Die Unterscheidung von strukturellen Veränderungen und Funktionseinschränkungen ist dabei eine entscheidende Voraussetzung für eine nachvollziehbare und korrekte Zusammenhangsbeurteilung.

Analyse des Unfallereignisses, des medizinischen Erstbefundes und des Verlaufes

  • Um welches Trauma handelte es sich?
  • Wie wirkte die Gewalt von außen auf den Körper ein?
    • Bei Stürzen (Fallhöhe) und Verkehrsunfällen (Kfz-Schaden mit unfallanalytischem technischem Sachverständigengutachten) sind häufig verlässliche Informationen zur Höhe der unfallbedingten Einwirkung verfügbar.
  • Mit welchen Symptomen war das Trauma verbunden?
  • Wie verhielt sich der Geschädigten nach dem Unfall?
  • Wurde medizinische Hilfe in Anspruch genommen und wenn, wann?
  • Welcher Erstbefund wurde erhoben?
  • Welche äußeren Verletzungszeichen wurden dokumentiert?
  • Wie war die weitere Behandlung, ambulant oder stationär, und in welchen Zeitabständen erfolgte diese?
  • Welche Therapien wurden verordnet und wahrgenommen?
  • Was ergaben die bildgebenden Untersuchungen (Röntgen, Kernspintomographie, Computertomographie, Sonographie)?

Der Bandscheibenvorfall – eine häufige orthopädische Erkrankung

Fast alle Bandscheibenvorfälle entstehen aus innerer Ursache. Zu einem Bandscheibenvorfall kommt es, wenn eine fortgeschrittene Zermürbung des Faserrings mit einem noch ausreichenden Quelldruck des Gallertkerns zusammentrifft. Das Bandscheibengewebe kann dann durch den geschwächten Faserring austreten („vorfallen“).

Der Vorfall tritt spontan oder unter alltäglichen Belastungen auf, die mit einer Druckerhöhung im Innern der Bandscheibe verbunden sind, wie z. B. Husten oder Vorbeugen des Rumpfs. Bedrängt das ausgetretene Bandscheibengewebe eine Nervenwurzel, kommt es klinisch zu einer Nervenwurzelreiz- oder Ausfallsymptomatik.

 

Begleitverletzungen: Voraussetzung für die Anerkennung eines traumatischen Bandscheibenvorfalls

Umfangreiche experimentelle Untersuchungen zur Prüfung der Möglichkeit eines unfallbedingten Bandscheibenvorfalles und der Kompressionsfestigkeit der Lendenwirbelsäule ergaben, dass eine Druckbelastung der Lendenwirbelsäule bei intakten Wirbelsäulenbändern so gut wie immer zuerst zu einer knöchernen Verletzung führt. Die Anerkennung eines Bandscheibenvorfalls als Unfallfolge kommt nur dann ernsthaft in Betracht, wenn im betroffenen Segment begleitende knöcherne Verletzungen oder Bandverletzungen vorliegen.

Beim Nachweis derartiger Begleitverletzungen ist bei gegebenem zeitlichem Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Bandscheibenvorfall in der Regel eine wesentliche Teilursächlichkeit (gesetzliche Unfallversicherung) des Unfalls wahrscheinlich; dies gilt auch wenn vorbestehende degenerative Veränderungen nachgewiesen sind.

Für die private Unfallversicherung gelten höhere Anforderung, hier muss der Unfall die überwiegende Ursache der Bandscheibenschädigung sein.

 

Die gutachterliche Bewertung von Zerrungen, Stauchungen und Prellungen der Wirbelsäule („HWS-Schleudertrauma“)

Funktionelle Verletzungen der Wirbelsäule ohne gravierende Gewebeschädigung können in sehr enger zeitlicher Verknüpfung mit dem Unfallereignis Beschwerden hervorrufen. Die Schmerzen und Bewegungseinschränkungen nehmen jedoch im Laufe von Tagen bis einigen Wochen ab, die Verletzten werden nach einem überschaubaren Zeitraum beschwerdefrei (“Decrescendo-Verlauf“).

Zunächst muss der Gutachter entscheiden, ob tatsächlich eine Zerrung, Stauchung oder Prellung der Wirbelsäule mit Krankheitswert vorgelegen hat. Dies ist in der Praxis schwierig, da die klinische Symptomatik einer funktionellen Verletzung Wirbelsäulenbeschwerden aus innerer Ursache ähnelt. Äußere Verletzungszeichen sind nur bei Prellungen der Wirbelsäule nachweisbar; sie fehlen zumeist bei Zerrungen und Stauchungen.

 

Zusammenhangsbegutachtung nach geringfügigen Verkehrsunfällen

Bei der Zusammenhangsbegutachtung von geringfügigen Verkehrsunfällen und Wirbelsäulenbeschwerden ohne eindeutiges traumatisches Korrelat sollte der Gutachter die Möglichkeit haben, Einblick in die Akte der Polizeibehörde zu nehmen, die den Unfall aufnahm. Die Polizeibeamten dokumentieren den Unfall und die Begleiterscheinungen.

Zudem enthalten die Protokolle Informationen zum Verhalten der Beteiligten und dem Gesundheitszustand unmittelbar nach dem Unfall. Die Fotografien vom Unfallort und den Fahrzeugen geben Hinweise auf mögliche oder fehlende Gewalteinwirkungen. Auf die Bedeutung der weiteren Dokumentation der „Vorgeschichte nach Aktenlage“ wurde bereits hingewiesen.

Schwierig ist die Beurteilung, wenn kein schwerer Unfall vorlag, aber die klinische Symptomatik im zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall aufgetreten ist. Hier müssen alle Umstände des Einzelfalls abgewogen werden, insbesondere der Verlauf etwaiger Vorerkrankungen der Wirbelsäule und die Höhe der unfallbedingten Krafteinwirkung.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei einer degenerativ veränderten Wirbelsäule unfallbedingte Reizerscheinungen bereits dann möglich sind, wenn eine gesunde Wirbelsäule wahrscheinlich nicht derartig reagiert hätte. Auch können bei einer degenerativ veränderten Wirbelsäule die Frühsymptomatik ausgeprägter und der Heilungsverlauf verzögert sein, wobei es dann aber letztlich doch fast immer zu einer kompletten Rückentwicklung der unfallbedingten Symptomatik kommt.

 

Hinweise für die Beurteilung des unfallbedingten des Dauerschadens an der Wirbelsäule

Bei der Begutachtung sind die nach der Ausheilung verbliebenen statischen Auswirkungen, Funktionsdefizite und die sich daraus ergebenden subjektiven Beschwerden zu bewerten.

Die Beurteilung auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet schließt die neurologischen Schäden nicht ein; diese sind zusätzlich zu berücksichtigen. Nach neurologischer Zusatzbegutachtung sollte der Hauptgutachter eine subsumierende Beurteilung vornehmen.

Eine Ausnahme besteht bei Gutachten für die private Unfallversicherung für neurologische Unfallfolgen, die sich an den Extremitäten auswirken. Diese sind nach der Gliedertaxe zu bemessen und es erfolgt bedingungsgemäß eine rechnerische Addition der Teil-Invaliditäten innerhalb und außerhalb der Gliedertaxe.

Angesichts der Schwere der Verletzung und der damit verbunden Gefahren für das Rückenmark sind die Ausheilungsergebnisse der knöchernen Wirbelsäulenverletzungen sehr gut. Für die Beeinträchtigungen auf orthopädisch-unfallchirurgischem Fachgebiet ist mit einer MdE oder Invalidität von 0 % bis 20 % zu rechnen.

Nur in Ausnahmefällen, bei ausgeprägten Instabilitäten, langstreckigen Versteifungen oder nach Ausbildung eines Gibbus (starke Knickbildung der Wirbelsäule), wird die Schädigung höher einzustufen sein.

Referenzen für die Beurteilung des Dauerschadens

Für die Bewertung können die Referenzwerke der orthopädisch-unfallchirurgischen Begutachtung hinzugezogen werden. Verwiesen sei unter anderem auf Schiltenwolf/Hollo (2021), Thomann, Grosser, Schröter (2020), das Kursbuch der ärztlichen Begutachtung (Hg. Ludolph, Schürmann, Gaidzik) und – für die gesetzliche Unfallversicherung – Schönberger, Mehrtens, Valentin (2017).

Die „Sektion Begutachtung“ der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie publizierte in den Jahren 2021 und 2022 aktuelle Einschätzungsempfehlungen für unfallbedingte Dauerschäden an der Wirbelsäule. Diese Empfehlungen sind zwar rechtlich nicht bindend, jedoch geben sie Sachverständigen eine wissenschaftlich begründete Handreichung für die Einschätzung von MdE und Invalidität.

Berufsgenossenschaften und privaten Versicherungen bieten die Referenzwerte eine Grundlage für eine angemessene Entschädigung. Im Konfliktfall werden auch Gerichte die Empfehlungen der Fachgesellschaften berücksichtigen.

Anhaltspunkte für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in der gesetzlichen Unfallversicherung – Empfehlungen der „Sektion Begutachtung“ der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie

Quelle: Die in der Tabellen angegebenen Werte basieren auf dem Artikel: „Zur Diskussion: Referenzwerte für muskuloskelettale Verletzungsfolgen zur Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach SGB VII – ein konsentierter Vorschlag der Sektion Begutachtung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie.“ (MEDSACH 117 2021, S. 195-200). Hieran haben mitgearbeitet: K. Dresing, T. Eyfferth, P. W. Gaidzik, M. Grotz, S. Lundin, M. Schiltenwolf, K.-D. Thomann, B. Widder, J. Zeichen.

FUNKTIONSZUSTAND MdE in v. H.
WIRBELBRÜCHE
Dornfortsatz-, Querfortsatzbrüche < 10

Stabil verheilter Wirbelkörperbruch
Keine oder nur geringe Fehlstatik, bisegmentaler Kyphosewinkel < 10° ohne Störung des sagittalen Profils. Ggf. Höhenminderung der angrenzenden Bandscheibe ohne wesentliche segmentbezogene Funktionsstörung

< 10

Stabil verheilter Wirbelkörperbruch
Leichter Achsenknick, bisegmentaler Kyphosewinkel 10° bis <20°, sagittales und koronares Profil noch erhalten, ggf. Höhenminderung der angrenzenden Bandscheibe mit mäßiger segmentbezogener Funktionsstörung

10

Stabil verheilter Wirbelkörperbruch
Statisch wirksamer Achsenknick bisegmentaler Kyphosewinkel >20°, sagittales ± koronares Profil gestört (Lotlinie C7/S1 mehr als 50 mm vor hinterem Anteil der Endplatte S1) oder
verheilter Wirbelkörperbruch mit verbliebener segmentaler Instabilität

20

Versteifung bis zu drei Segmenten der LWS
(einschließlich thorakolumbaler Übergang) oder der HWS (unterhalb HWK 2)

20
Formstörungen und Versteifungen der BWS wirken sich geringer aus
Verheilter Wirbelkörperbruch mit erheblicher Störung des sagittalen ± koronaren Profils (Lotlinie C7/S1 mehr als 70 mm vor hinterem Anteil der Endplatte S1), (>30°) und radiologisch objektivierbarer segmentaler Instabilität 30

Operative Versteifung von mehr als drei und mehr Bewegungssegmenten
nach Lokalisation HWS (unterhalb HWK 2), LWS und thorakolumbaler Übergang

30
Versteifungen der BWS wirken sich geringer aus

Anhaltspunkte für die Bemessung der Invalidität außerhalb der Gliedertaxe für Verletzungen der Wirbelsäule – Empfehlungen der „Sektion Begutachtung“ der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie

Quelle: Die in den Tabellen angegebenen Werte basieren auf der „Konsentierte[n] Synopse über Bemessungsempfehlungen für muskuloskelettale Verletzungsfolgen in der Privaten Unfallversicherung“. (MEDSACH118: 2022, S. 10-18). Hieran haben mitgearbeitet: K. Dresing, T. Eyfferth, P. W. Gaidzik, M. Grotz, S. Lundin, M. Schiltenwolf, K.-D. Thomann, B. Widder, J. Zeichen.

Stabil verheilter Wirbelkörperbruch
Keine oder nur geringe Fehlstatik, bisegmentaler Kyphosewinkel < 10° ohne Störung des sagittalen Profils
Ggf. Höhenminderung der angrenzenden Bandscheibe ohne wesentliche segmentbezogene Funktionsstörung

5 %

Stabil verheilter Wirbelkörperbruch
Leichter Achsenknick, bisegmentaler Kyphosewinkel 10° bis <20°, sagittales Profil noch erhalten
Ggf. Höhenminderung der angrenzenden Bandscheibe mit mäßiger segmentbezogener Funktionsstörung

10 %

Stabil verheilter Wirbelkörperbruch
Statisch wirksamer Achsenknick bisegmentaler Kyphosewinkel >20°, sagittales Profil gestört (Lotlinie C7/S1 mehr als 50 mm vor hinterem Anteil der Endplatte S1)
oder
Verheilter Wirbelkörperbruch mit verbliebener segmentaler Instabilität

20 %

Versteifung bis zu drei Segmenten der LWS
(einschließlich thorakolumbaler Übergang) oder der HWS (unterhalb HWK 2)

20 %

Versteifung bis zu drei Segmenten der LWS
(einschließlich thorakolumbaler Übergang) oder der HWS (unterhalb HWK 2)

20 %
Formstörungen und Versteifungen der BWS wirken sich geringer aus

Verheilter Wirbelkörperbruch mit erheblicher Störung des sagittalen Profils
(Lotlinie C7/S1 mehr als 70 mm vor hinterem Anteil der Endplatte S1), (>30°) und radiologisch objektivierbarer segmentaler Instabilität

30 %

Operative Versteifung von mehr als drei und mehr Bewegungssegmenten
An der HWS (unterhalb HWK 2), LWS und dem thorakolumbaler Übergang

30 %

Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann

Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Rheumatologie, Sozialmedizin