Die 5. Version der S2k-Leitlinie „Ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen“ („Leitlinie Schmerzbegutachtung“, AWMF-Registernummer 187-006) wurde im August 2023 vorgestellt. Federführend sind die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) sowie die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM).
Zu den Zielen heißt es einleitend:
Die Leitlinie dient der interdisziplinären Qualitätssicherung bei der Begutachtung von Menschen, die als Leitsymptom über chronische Schmerzen klagen. Von solchen ist gemäß ICD-Definition zu sprechen, wenn eine Schmerzsymptomatik über mehr als 3 Monate anhält oder rezidivierend besteht. Sie soll den Ablauf und Inhalt der Zustands- und Zusammenhangsbegutachtung bei chronischen Schmerzsyndromen in den verschiedenen Rechtsgebieten vereinheitlichen und die Verständigung zwischen Ärzten und Juristen verbessern. Die Leitlinie bezieht sich auf Gutachten, deren Auftrag primär an einen Arzt gerichtet wird.
In der Leitlinie gibt es folgende Neuerungen:
- Einführung der neuen ICD 11-Nomenklatur: chronischer primärer Schmerz, chronischer sekundärer Schmerz
- Präzisierung des Vorgehens bei Gutachten mit kausaler Fragestellung
- Abgrenzung üblicher von außergewöhnlichen Schmerzen
Unterschieden werden zwei grundsätzliche Konzepte der Begutachtung, nämlich die Zustandsbegutachtung (Begutachtung mit „finaler“ Fragestellung) und die Zusammenhangsbegutachtung (Begutachtung in Kausalitätsfragen). In der vorliegenden Arbeit wird ein wesentlicher Teil der Zustandsbegutachtung dargestellt, nämlich die Begutachtung schmerzbedingter Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit für die gesetzliche Rentenversicherung, die private Berufsunfähigkeitsversicherung, die private Krankentagesgeldversicherung (Sparte private Krankenversicherung), die Beamtenversorgung sowie die berufsständischen Versorgungswerke.
Solche schmerzmedizinischen Gutachten zur beruflichen Leistungsfähigkeit erfordern umfassende und vielschichtige differenzialdiagnostische Erwägungen unter Berücksichtigung einer eingehenden, sowohl somatischen als auch psychischen Befunderhebung zur Einschätzung der Diagnose, der hierdurch bedingten Funktionsbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen auf die Aktivität bzw. Teilhabe. Abhängig von der Fragestellung kommt auch der prognostischen Bewertung eine besondere Bedeutung zu.
Gutachtliche Untersuchung
Angesichts des Fehlens geeigneter technischer Messmethoden zur Quantifizierung von Schmerzen ist es im Rahmen der Anamnese Aufgabe des Gutachters, insbesondere Beeinträchtigungen im täglichen Leben und in der sozialen Partizipation sowie Fragen der Entwicklung, des Erlebens und bisheriger Behandlungsmaßnahmen der geklagten Schmerzen eingehend zu be-, aber auch zu hinterfragen. Entscheidend hierfür sind die Kriterien der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health).
Untersuchungsmethoden
- Bei der körperlichen Untersuchung sollten neben der fachspezifischen körperlichen und psychologischen sowie ggf. apparativen Untersuchung wichtige Informationen zu bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen gewonnen werden.
- Bildgebende Untersuchungen (Nativ-Röntgenuntersuchungen, Computer- und Kernspintomographie, nuklearmedizinische Verfahren) erscheinen nicht geeignet, das individuelle Ausmaß chronischer Schmerzen darzustellen, da auffällige Befunde in hohem Umfang unspezifisch sind und auch bei symptomfreien Menschen häufig vorhanden sein können (z. B. Bandscheibenvorfälle). Dies gilt nach derzeitigem wissenschaftlichem Kenntnisstand auch für funktionelle Bildgebungsverfahren wie z. B. die funktionelle Kernspintomographie (fMRI).
- Pathologische elektrophysiologische Untersuchungsbefunde stellen im Allgemeinen die Grundvoraussetzung für die Begründung eines durch eine Nervenschädigung bedingten Schmerzes (neuropathischer Schmerz) dar.
Gutachtliche Beurteilung
Bei der gutachtlichen Beurteilung sind im Allgemeinen 3 Fragen zu beantworten:
- Welche Gesundheitsstörungen lassen sich „ohne vernünftigen Zweifel“ (sog. „Vollbeweis“) nachweisen?
- Welche hieraus resultierenden, länger (in den meisten Rechtsgebieten mehr als 6 Monate) anhaltenden Funktionsbeeinträchtigungen mit Einschränkungen in Aktivität und Teilhabe lassen sich „ohne vernünftigen Zweifel“ nachweisen?
- Welche Prognose („Überwindbarkeit durch eigene Willensanstrengung und/oder durch ärztliche Maßnahmen“) haben die nachweisbaren Beeinträchtigungen? D. h. welche Kontextfaktoren nehmen auf die Prognose Einfluss?
Hier einige wichtige Aussagen:
- In der Regel sind Diagnosen nach der ICD-Klassifikation zu verschlüsseln. Diagnosen erklären jedoch nicht den Schweregrad einer Schmerzsymptomatik. Entsprechend sollten die nachweisbaren Funktionsbeeinträchtigungen und die Beeinträchtigungen in Aktivität und Teilhabe gemäß ICF stets zusammen mit den jeweiligen Diagnosen an entscheidender Stelle genannt werden.
- Maßstab für die Bewertung sind die belegbaren Auswirkungen der geklagten Schmerzsymptomatik. Kontextfaktoren – sowohl Umweltfaktoren als auch personengebundene Faktoren – sind von wichtigem Einfluss. Zu beachten ist etwa auch eine iatrogene (durch den Arzt ausgelöste) Verstärkung, z. B. „katastrophisierende“ ärztliche Beratung oder unreflektierte Unterstützung in den sozialen Anliegen (etwa bzgl. Arbeitsunfähigkeit, Rentenantrag).
- Ein Chronifizierungsgrad III im Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung nach Gerbershagen bzw. eine hohe Schmerzschwere nach von Korff werden häufig als „Beweis“ für das Vorliegen ausgeprägter schmerzbedingter Funktionsbeeinträchtigungen angesehen. Hier ist jedoch zu beachten, dass der Chronifizierungsgrad nach Gerbershagen kaum veränderlich ist und die Schmerzschwere aufgrund der subjektiven Angaben des zu Begutachtenden festgestellt wird.
- Wesentlicher als Arbeitsunfähigkeitszeiten ist die Modulationsfähigkeit. Davon ist auszugehen, wenn die Probanden auf das Schmerzerleben Einfluss nehmen können.
- Soweit sinnvoll, soll bei der gutachtlichen Untersuchung der Einsatz spezieller und/oder dem Setting angemessener Fragebögen, Skalen und psychometrischer und physiologischer (Leistungs-)Tests mit Diskussion der Ergebnisse im Kontext zu den übrigen Befunden im Rahmen der Beschwerdenvalidierung erfolgen.
- Erforderlich ist eine umfassende Konsistenzprüfung der geklagten Beschwerden und Beeinträchtigungen („Beschwerdenvalidierung“) im Kontext mit Exploration, erhobenen Befunden und Beobachtung und im Abgleich mit den vorliegenden Befunden in den Unterlagen.
Einschätzung der beruflichen Leistungsfähigkeit
Abschließend ist in Abhängigkeit der nachweisbaren Funktionsbeeinträchtigungen und deren willentlicher Steuerbarkeit sowie der versicherungsrechtlichen Vorgaben die berufliche Leistungsfähigkeit vom Sachverständigen in ihrer (für den Bereich der Gesetzlichen Rentenversicherung, der Versorgungswerke und des Beamtenrechts im Verwaltungs- oder gerichtlichen Verfahren) qualitativen und quantitativen Ausprägung, ansonsten auf Teiltätigkeiten bezogenen Minderung der Leistungsfähigkeit (für den Bereich der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung und der Krankentagegeldversicherung) darzustellen. Dies gilt je nach Fragestellung sowohl retrospektiv anhand der Aktenlage, zum Zeitpunkt der Begutachtung als auch prospektiv anhand der ersichtlichen Prognosefaktoren. Gemäß Rechtsprechung hat dies nachvollziehbar – in einer „der verständigen Überlegung des Laien zugänglichen Weise“ – zu erfolgen.
- Im ersten Schritt sind die bestehenden Leistungseinschränkungen („negatives Leistungsbild“) und das noch vorhandene Restleistungsvermögen („positives Leistungsbild“) in ihrer qualitativen Ausprägung (welche Arbeiten können ihrer Art nach noch verrichtet werden bzw. sind ausgeschlossen?) darzustellen. Je nach Rechtsgebiet bezieht sich dies auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (Erwerbsminderung der Gesetzlichen Rentenversicherung, Minderung der Erwerbstätigkeit bei der Gesetzlichen Unfallversicherung) oder auf die zuletzt konkret ausgeübte Tätigkeit (Berufsunfähigkeit in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung, Arbeits- bzw. Berufsunfähigkeit in der privaten Krankenversicherung, im Haftpflichtrecht) – ggf. unter Berücksichtigung möglicher Verweisungstätigkeiten bzw. Verweisberufe (in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung, je nach Vertrag).
- Im zweiten Schritt gilt es, entsprechend des erkennbaren positiven und negativen qualitativen Leistungsbilds, die meist für die Einschätzung ausschlaggebende Frage möglicher quantitativer Leistungseinschränkungen (zeitliches tägliches [Rest-] Leistungsvermögen) zu klären.
Schließlich hat der Sachverständige Stellung dazu zu nehmen, ob und aufgrund welcher Befunde er selbst anhand der Zusammenschau von Exploration, Untersuchung, Verhaltensbeobachtung und Aktenlage davon überzeugt ist, dass die anamnestisch erfassten Einschränkungen quantitative und/oder qualitative Leistungseinschränkungen begründen.
Soweit aufgrund der durchgeführten Untersuchung eine Klärung des tatsächlichen Ausmaßes der Einschränkungen der Leistungsfähigkeit nicht möglich ist, darf sich der Gutachter nicht scheuen, dies in seinem Gutachten klar auszudrücken. Die Unmöglichkeit einer sachgerechten Beurteilung trotz Ausschöpfung aller Möglichkeiten führt im Rechtsstreit zwar meist zur Ablehnung des Renten- oder Entschädigungsantrags, da die Beweis- bzw. Feststellungslast in der Regel beim Antrag- bzw. Anspruchsteller liegt. Diese rechtliche Konsequenz soll jedoch auf das Gutachtenergebnis keinen Einfluss haben. Ebenso ist zu beachten, dass es einen Grundsatz des „in dubio pro aegroto“ („im Zweifel für den Kranken“ bzw. hier gemeint „im Zweifel für den Antrag- bzw. Anspruchsteller“) bei der Begutachtung nicht gibt.
Dr. Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner
Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Rheumatologie, Sozialmedizin
Ko-Autor der Leitlinie