Die Aktenbegutachtung wird oft unterschätzt; das gilt gerade auch in der privaten Berufsunfähigkeits- und Krankentagegeldversicherung. Der Gutachter sollte daher bei Erhalt eines Gutachtenauftrags zunächst prüfen, ob eine Untersuchung des Probanden durch ihn tatsächlich erforderlich ist, oder ob sich die für die Begutachtung relevanten Informationen nicht bereits in den Akten finden.

Denn die Aktenbegutachtung hat zahlreiche Vorteile:

  • Niedrigerer Preis
  • Schnelligkeit
  • Bundesweite Verfügbarkeit des Gutachters
  • Keine Mitarbeit (und keine Belästigung) des Versicherten
  • Problemlose Weiterführung der Begutachtung bei Einspruch des Versicherten / Vorlage weiterer Unterlagen möglich

Aktengutachten ist nichts für Anfänger

Zu beachten ist dabei, dass die medizinische Begutachtung aus zwei Teilen besteht, wie Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann auf einem Seminar des IVM im März 2023 erklärte:

  1. Medizinischer Teil: Befunde – Fakten – Diagnosen
  2. Versicherungsrechtlicher Teil: Medizinische, gesellschaftliche und juristische Bewertungen

Während bei der Einhaltung wissenschaftlicher Kriterien verschiedene Gutachter beim medizinischen Teil zu den gleichen Ergebnissen kommen, gelangen diese beim versicherungsrechtlichen Teil (zu dem etwa die Quantifizierung von Funktionseinschränkungen gehört) häufig zu stark unterschiedlichen Ergebnissen, so Thomann.

Grund ist nicht selten die Tatsache, dass klinisch hoch qualifizierte und anerkannte Ärzte nicht per se auch gute Gutachter sind; dafür sind spezielle Kenntnisse und Erfahrungen auf gutachtlichem Gebiet erforderlich.

Das Anfertigen von Aktengutachten ist daher nichts für Anfänger. So führten Jürgen Fritze und Friedrich Mehrhoff in dem Standardwerk „Die Ärztliche Begutachtung“ (8. Auflage, 2012) aus, dass die in den Akten enthaltenen Angaben und medizinische Daten richtig oder falsch sein können oder auch nur unterschiedlich interpretierbar. Daher sei die Bearbeitung solcher Gutachten besonders schwierig. Bisweilen seien die in den Akten enthaltenen objektiven Daten und Fakten zudem so gering, dass eine fundierte gutachterliche Beurteilung nicht möglich sei. Das habe der Gutachter dann zu erklären und zu begründen.

Die Problematik der Aktenbegutachtung hinsichtlich der gesundheitlich eingeschränkten beruflichen Leistungsfähigkeit sei erläutert anhand des Karnofsky-Index (eigentlich Karnofsky performance status scale). Dabei handelt es sich um eine Skala, mit der symptombezogene Einschränkungen der Aktivität, Selbstversorgung und Selbstbestimmung bei Patienten mit bösartigen Tumoren bewertet werden können. Damit soll es möglich sein, den abstrakten und schwer fassbaren Begriff der Lebensqualität mit einer gewissen Annäherung zu operationalisieren und standardisieren.

Ein Karnowsky-Index von 100 entspricht dem Normalzustand ohne Beschwerden; ein Patient mit einem Karnowsky-Index von 70 (und weniger) gilt als arbeitsunfähig (s. Tabelle).

Karnofsky-Index

100 % Keine Beschwerden, keine Zeichen der Krankheit.
90 % Fähig zu normaler Aktivität, kaum oder geringe Symptome.
80 % Normale Aktivität mit Anstrengung möglich. Deutliche Symptome.
70 % Selbstversorgung. Normale Aktivität oder Arbeit nicht möglich.
60 % Einige Hilfestellung nötig, selbständig in den meisten Bereichen.
50 % Hilfe und medizinische Versorgung wird oft in Anspruch genommen.
40 % Behindert. Qualifizierte Hilfe benötigt.
30 % Schwerbehindert. Hospitalisation erforderlich.
20 % Schwerkrank. Intensive medizinische Maßnahmen erforderlich.
10 % Moribund. Unaufhaltsamer körperlicher Verfall.
0 % Tod.

Problematisch dabei ist, dass es sich um eine pauschale Einschätzung des Onkologen ohne weitere Begründung handelt und dass die Art der Arbeitstätigkeit dabei überhaupt nicht berücksichtigt wird. Somit muss der Aktengutachter beurteilen, ob etwa bei einem Karnowsky-Index von (angeblich) 80 nicht doch im konkreten Fall eine ausgeprägte Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit vorliegt (bzw. vorlag).

Bisweilen ist die Aktenbegutachtung sogar Standard. So erklärte der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 30. 6. 2010 (AZ: IV ZR 163/09, Düsseldorf) dass für die sachverständige Beurteilung der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit in der Krankentagegeldversicherung die „medizinischen Befunde“ (d. h. alle ärztlichen Berichte und sonstigen Untersuchungsergebnisse) heranzuziehen und auszuwerten sind, welche der Versicherer für den maßgeblichen Zeitpunkt vorlegen kann. Dabei ist es gleich – so der BGH – wann und zu welchem Zweck die medizinischen Befunde erhoben wurden. Auch müssen diese keine (ausdrückliche oder wenigstens stillschweigende) ärztliche Feststellung der Berufsunfähigkeit enthalten.

Qualitätsprüfung von Gutachten – die „Königsdisziplin“ der Aktenbegutachtung

Dem Aktengutachter werden auch Fälle zur Beurteilung vorgelegt, in denen vorhergehende Gutachten mit Untersuchung des Versicherten durch entsprechende Fachärzte vorliegen, welche im Rahmen der Aktenbegutachtung dann hinsichtlich ihrer Qualität überprüft werden sollen.

Gerade in der Krankentagegeldversicherung finden sich bei solchen Gutachten nicht selten Mängel, zumal solche Gutachten ein Massengeschäft sind und meist in weitaus kürzerer Zeit (und mit deutlich niedrigerem Honorar) angefertigt werden als Gutachten in der Berufsunfähigkeitsversicherung.

Nach eigenen Erfahrungen handelt es sich dabei v. a. um folgende Mängel:

  • Mangelhafte Erhebung der (Berufs-)Anamnese
  • Keine Auseinandersetzung mit Vorbefunden
  • Mangelhafte Dokumentation von Anamnese und Befunden
  • Die Beschwerden werden als „glaubhaft“ angesehen.
  • Die Diagnosen stimmen nicht mit den Befunden überein (sondern beruhen oft nur auf der Anamnese).
  • Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit beruht nicht auf Befunden (sondern oft nur auf der Anamnese).
  • Pauschale, unbegründete Aussagen zur Leistungsfähigkeit („100%-ige AU bis auf weiteres“)
  • Überschreiten des eigenen Fachgebietes

Als problematisch erweisen sich zudem nicht selten Rehabilitations-Entlassungsberichte, die ja insbesondere der sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben dienen und somit ein sozialmedizinisches Gutachten darstellen (Deutsche Rentenversicherung: Der ärztliche Reha-Entlassungsbericht, 2022): Anamnese (auch Berufsanamnese), Befund und Verlauf werden dort in der Regel ausführlich und sorgfältig dargestellt. Die sozialmedizinische Epikrise erweist sich bei kritischer Beurteilung allerdings nicht selten als zu „optimistisch“.

Besonders anspruchsvoll ist schließlich die Qualitätsprüfung von Gerichtsgutachten, da diese in der Regel von hochqualifizierten Fachärzten, oft Klinikchefs bzw. Universitätsprofessoren, sorgfältig angefertigt wurden und sehr umfangreich sind. Dass auch diesen Gutachtern gravierende Fehler unterlaufen können, zeigt folgendes Beispiel (aus der Arbeit des Autors, damals noch als Gesellschaftsarzt eines großen Versicherers):

Der Gutachtenauftrag des Landgerichts zur Klage eines Versicherten gegen die BU-Entscheidung der Krankentagegeld-Versicherung (womit diese ihre Leistungen eingestellt hatte) lautete:

  1. Der bisher ausgeübte Beruf des Klägers ergibt sich aus dessen Angaben im Arbeitsplatzfragebogen, den der Kläger im Zusammenhang mit der Begutachtung durch Dr. X im September 2010 [im Auftrag des Versicherers] ausgefüllt hat.
  2. Die Prognose soll rückschauend für den 16.9.2010 gestellt werden. Der Prognose sind alle verfügbaren medizinischen Unterlagen bis zu diesem Zeitpunkt zugrunde zu legen.

Der Gutachter, Facharzt für Innere Medizin und Arbeitsmedizin, führte dazu in seinen ca. 80 Seiten umfassenden Gutachten u. a. aus:

„Das Gutachten stützt sich auf die ambulante Untersuchung vom 7.12.2011 in der Untersuchungsstelle München.“
„Nachdem der Unterfertigte es für die Beurteilung einer Berufsunfähigkeit für erforderlich hält, […] die entsprechenden Belastungen und Beanspruchungen am Arbeitsplatz selbst in Augenschein zu nehmen und zu beurteilen, hat er am 28.2.2012 eine arbeitsmedizinische Begehung des Arbeitsplatzes des Klägers vorgenommen.“
„Der Anwalt des Klägers wurde informiert, er hielt eine Teilnahme für nicht erforderlich.“

Dabei machte der Gutachter folgende gravierende Fehler, die sein Gutachten massiv angreifbar machen:
Der Gutachter

  • erweiterte selbständig den Gutachtenauftrag.
  • bezog sich nur auf den von ihm aktuell erhobenen Untersuchungsbefund (sowie auf vorliegende weitere aktuelle Befunde).
  • berücksichtigte die bis zum 16.9.2010 erhobenen Befunde überhaupt nicht.
  • legte seiner Beurteilung die von ihm am 28.2.2012 durchgeführte Arbeitsplatzbegehung zugrunde (woher war er denn sicher, dass das tatsächlich der Arbeitsplatz des Klägers war?),
  • nicht (wie vom Gericht ausdrücklich vorgegeben) die damaligen Angaben des Klägers.
  • erweist sich als parteilich (nur der Anwalt der einen Partei wurde zur Arbeitsplatzbegehung eingeladen).

Über einen ähnlichen, aktuelleren Fall, der dem Autor im Jahr 2020 zur Aktenbegutachtung vorgelegt worden war, hat dieser im Newsletter vom Juni 2023 berichtet (Beitrag: „Typische Fehler in der Begutachtung für die private Krankentagegeld- und Berufsunfähigkeitsversicherung“)

Der Gerichtsgutachter hatte in diesem Fall die konkreten Vorgaben des Gerichts zur beruflichen Tätigkeit einer Versicherten nicht berücksichtigt, sondern sein Gutachten ganz im Gegenteil auf neue, von den Gerichtsvorgaben wesentlich abweichende Angaben der Versicherten (der Klägerin!) im Rahmen seiner Begutachtung gestützt, ohne das mit dem Gericht abzustimmen.

  • Ein solches Vorgehen ist jedoch nicht zulässig, da es dem Sachverständigen nicht freisteht, von sich aus einen möglicherweise streitrelevanten Sachverhalt etwa bei einer Prozesspartei (wie hier der Klägerin) zu ermitteln.
  • Somit kann dieses Gutachten (bzw. dieser Gutachter) vom beklagten Versicherer wegen Parteilichkeit abgelehnt werden.

Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner