5. Dezember 2024 in Frankfurt
Der 15. Kongress für Versicherungsmedizin, Sozialmedizin und medizinische Begutachtung des IVM am 5. Dezember 2024 in Frankfurt/Main, geleitet von Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann, war den aktuellen und zukünftigen Entwicklungen der gesetzlichen und privaten Versicherungen und dem Wandel der Begutachtung gewidmet. Neue, arbeits- und zeitsparende Methoden der Begutachtung werden zunehmend wichtiger, da die Zahl der ärztlichen Gutachter stark abgenommen hat, betonte Thomann einleitend.
Von der künstlichen Intelligenz (KI) zum „digitalen Gericht“
Über Zukunftstechnologien Big Data Analytics und künstliche Intelligenz (KI) berichtete einleitend Prof. Dr. Mathias Klier, Stiftungsprofessor für betriebswirtschaftliches Informationsmanagement am Institut für Business Analytics an der Universität Ulm.
Das Potenzial von KI ist enorm, so Klier, gerade auch für die Versicherungsbranche. Eingesetzt wird KI dort etwa in der Kundenbetreuung bei Anfragen, in der Vertragsprüfung und Analyse, in der Effizienzsteigerung der Unternehmensfunktionen sowie in der Entscheidungsunterstützung – sowohl im Underwriting (Antragsprüfung) als auch in der Schadensbearbeitung. Gerade dort kann KI sinnvoll eingesetzt werden, um schnell zu Entscheidungen zu kommen, zumal ein wesentlicher Beschwerdepunkt von Kunden die lange Dauer der Schadensbearbeitung ist.
Als Herausforderungen beim Einsatz von KI in Versicherungsunternehmen gelten allerdings Sicherheit und Datenschutz:
- Wo bleiben die Daten im Unternehmen?
- Kann es zur Veröffentlichung sensibler Informationen kommen?
Problematisch ist weiter die mangelnde Transparenz bei KI. „Wir arbeiten dort mit einer kompletten Black Box – das ist gefährlich!“ warnte Klier. Generell gelte allerdings der Grundsatz des Chief Technology Officers (CTO) des Rückversicherers Gen Re, Frank Schmid: „Angesichts der Leistungsfähigkeit der Technologie besteht das größte Risiko für Versicherer und Rückversicherer darin, sie nicht in ihre Abläufe und Geschäftsmodelle zu integrieren.“
Die Auswirkungen der Digitalisierung des elektronischen Rechtsverkehrs auf die medizinische Begutachtung und die richterliche Entscheidungsfindung thematisierte die Richterin am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt Beate Engin, Leiterin des Referats für Informationstechnologie.
Obwohl bereits 2013 das „Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten“ verabschiedet worden war, erschwert weiterhin v. a. die inhomogene Infrastruktur die Kommunikation erheblich, zumal es unterschiedliche Herangehensweisen an die Digitalisierung der Behördenakten gibt. Diese sind in der Folge oft nur schwer lesbar, durchdringbar bzw. handhabbar – sowohl für Richter als auch für Sachverständige. Das Konzept des elektronischen Rechtsverkehrs hat sich noch längst nicht überall – und dann auch nicht einheitlich – durchgesetzt.
Interessant ist allerdings das neue Konzept der mündlichen Gerichtsverhandlung per Videokonferenz, was im Ermessen des Gerichts steht. Das erleichtert auch die Arbeit des Sachverständigen, muss er dann doch zur mündlichen Anhörung und Erläuterung seines Gutachtens nicht mehr vor Ort sein, sondern kann der Verhandlung per Videokonferenz zugeschaltet werden. Allerdings sollte er aufpassen, sich während der Teilnahme an der mündlichen Gerichtsverhandlung nicht an einem unpassenden Ort (etwa in einem ICE) zu befinden oder im Ausland, warnte Engin.
Die Telebegutachtung – eine Alternative zur Präsenzbegutachtung?
Der Arbeits-, Sozial- und Umweltmediziner Prof. Dr. Andreas Weber, Ärztlicher Direktor der Softdoor GmbH in Gelsenkirchen, berichtete über praktische Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen der Telemedizin in der Begutachtung.
Die Corona-Pandemie hatte als „Türöffner und Beschleuniger“ der Telemedizin gewirkt. Auch war die Telemedizin 2019 durch das Digitale-Versorgungs-Gesetz (DGV), welches eine bessere Gesundheitsversorgung durch Digitalisierung und Innovation gewährleisten soll, gestärkt worden.
Zusammenfassend nannte Weber folgende „Take-Home-Message“:
- Die Telebegutachtung ist eine bessere Alternative als eine telefonische oder eine reine Akten-Begutachtung.
- Entscheidend für den sinnvollen Einsatz von Telemedizin in der Begutachtung sind Fragestellung, geeignete Erkrankungsarten und Vorbefunde.
- Bei Akzeptanz des Probanden ist die Telebegutachtung machbar und praxistauglich.
- Wesentliche Faktoren für eine erfolgreiche Telebegutachtung sind eine gute technische Infrastruktur und Organisation, eine gute Vorbereitung und Atmosphäre, ein ausreichendes Zeitbudget und eine telemedizinische Kompetenz des Gutachters.
Präsenzbegutachtung, Gutachten nach Aktenlage oder Telebegutachtung: Welche Möglichkeiten ergeben sich für die Gesetzliche Unfallversicherung? – diese Frage erörterten Katja Sessig, Referentin Berufskrankheiten und Digitale Reha bei der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) in Mannheim, sowie Martin Kögler, Referent Teilhabe bei der BGHW.
Die Telebegutachtung hat sich als zielgenau und verlässlich erwiesen. Auch hat sie gegenüber der Aktenbegutachtung verschiedene Vorteile:
- Audio-visueller Mehrwert
- Aktualität der Anamnese
- Persönliches Gespräch unter vier Augen in Echtzeit
- Reaktion und Rückantwort des Versicherten
- Weniger Aufwand für den Versicherten
Grenzen für die Telebegutachtung ergeben sich allerdings dann, wenn sich aus der körperlichen Untersuchung ein gutachtlicher Erkenntnisgewinn ergibt, etwa hinsichtlich Funktionseinschränkungen, oder wenn weitergehende technische Untersuchungen notwendig erscheinen. Dann ist in der Regel eine Präsenzbegutachtung erforderlich.
Über erste Erfahrungen im IVM mit der Telebegutachtung zur privaten Krankentagegeldversicherung berichteten die Neurologin und Sozialmedizinerin Dr. Katrin Weigelt und der Orthopäde, Unfallchirurg und Chirurg Dr. Robert Hartel vom IVM in Frankfurt.
Seit März 2023 wurden im IVM 100 solcher Telebegutachtungen zur Prüfung der Plausibilität von Arbeitsunfähigkeit bzw. zum Vorliegen von Berufsunfähigkeit in der Krankentagegeldversicherung vorgenommen, meist bei nervenärztlichen Erkrankungen (65 %).
Dabei handelte es sich v. a. um folgende Diagnosen:
- Nervenärztlich: Depression, Anpassungsstörungen, Ängste
- Sozialmedizinisch: Krebserkrankungen
- Unfallchirurgisch/orthopädisch: Wirbelsäulen- bzw. Gelenkbeschwerden
Insgesamt erwies sich die Telebegutachtung als gut geeignet für „sprechende Fächer“ (wie innere Medizin, ggf. auch Psychiatrie) und für Verlaufsbeurteilungen, weniger dagegen für Begutachtungen in der Orthopädie bzw. Unfallchirurgie, lautete das vorläufige Fazit.
Neue Entwicklungen in der Absicherung des Invaliditätsrisikos und in der Therapie chronischer Schmerzen
Über das relativ neue Versicherungsprodukt „Grundfähigkeitsversicherung“ referierten die Rechtsanwältin Annika Schilling, Head of Underwriting Research beim Rückversicherer Gen Re in Köln, und der Rechtsanwalt Björn Borchmann, Segment Chief Claims Officer ebenfalls bei der Gen Re.
Die Grundfähigkeitsversicherung wurde ursprünglich als Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung „unterhalb der BU“ entwickelt für Kunden
- die aufgrund von Vorerkrankungen keine Berufsunfähigkeitsversicherung erhalten bzw.
- für die eine Berufsunfähigkeitsversicherung unbezahlbar ist (ungünstigere Berufsgruppen).
Seitdem hat es jedoch eine ständige Annäherung der Grundfähigkeitsversicherung an die Berufsunfähigkeitsversicherung gegeben, wodurch die entsprechenden Produkte teurer und die Risikoprüfung strenger wurden. Allerdings ist weiterhin zu beachten, dass die Grundfähigkeitsversicherung per se keine Arbeitskraftversicherung ist, betonten die Referenten; in der Grundfähigkeitsversicherung ist der Beruf nicht Bestandteil der Leistungsdefinition.
Tatsächlich ist die Grundfähigkeitsversicherung eigentlich eine Bündelung verschiedener Policen, nämlich jeweils eine zum Schutz gegen den Verlust der Seh-, der Hör- und der Gehfähigkeit usw. Die jeweilige Produktgestaltung der verschiedenen Versicherungsunternehmen wirkt sich dabei auf die Ermittlung der Risikozuschläge und die Gestaltung von Ausschlussklauseln aus.
Aktuelle Entwicklungen in der invasiven Schmerztherapie stellte der Neurochirurg Dr. Gregor Bara vor, Oberarzt und stellvertretender Leiter der Sektion „Funktionelle Neurochirurgie und Stereotaxie“ an der Klinik für Neurochirurgie an der Uniklinik Bonn.
Besonders bewährt hat sich die Neurostimulation: Es handelt sich um eine reversible Beeinflussung von Nervenfunktionen. Im Gegensatz zu anderen operativen Verfahren werden dabei weder die Funktion der Nerven noch das Gewebe zerstört; alle Effekte sind vollständig umkehrbar.
So führt die mittels ECAP (evoced compound action potentials) kontrollierte closed-loop Rückenmarkstimulation bei Patienten mit primären und sekundären Raynaud-Phänomenen zu einer objektiv nachweisbaren Steigerung der peripheren Durchblutung und vermindert die Häufigkeit sowie die Schwere der Raynaud-Attacken und die (subjektive) Beeinträchtigung des Patienten.
Ein Resümee zu den unterschiedlichen Formen der medizinischen Begutachtung und zum Einsatz von KI aus Sicht eines Gesellschaftsarztes zog Dr. Jens Rickmann, Leitender Gesellschaftsarzt bei der Alte Leipziger Lebensversicherung in Oberursel. Die Thematik ist durchaus auch für Gutachter interessant, da in ca. 7 % der Leistungsfälle in der privaten Berufsunfähigkeits- und Unfallversicherung externe medizinische Fachgutachter die Expertise des Versicherers ergänzen.
Dr. Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner
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