Gerade in der privaten Krankenversicherung (PKV) wird der medizinische Gutachter immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob im zu beurteilenden Fall eine Liposuktion bei vorliegendem Lipödem medizinisch notwendig ist bzw. war und wie diese ggf. nach der GOÄ abzurechnen ist. Hierzu gibt es inzwischen aktuelle Informationen, auf welche sich der Gutachter stützen kann.
Zur Problematik erklärte Dr. Katja S. Mühlberg von der Medizinischen Klinik und Poliklinik V, Angiologie, am Universitätsklinikum Leipzig bereits auf dem 16. DGIM-Internisten-Update-Seminar am 5. und 6. November 2021, dass sich um das Lipödem viele Mythen ranken. Der aktuelle mediale Hype führe dazu, dass viele Frauen beim Blick auf ihre Beine verunsichert seien und ein Lipödem wähnen, was nicht selten im dringenden Wunsch nach einer Liposuktion münde.
Oftmals aber – und dies aus eigener langjähriger Erfahrung – handele es um eine klassische Adipositas, ein Lymphödem oder das einfache Bestreben nach Selbstoptimierung, um eigenen Vorstellungen oder den von der Gesellschaft vorgegebenen zu entsprechen. Dieser Kommentar solle nicht das Verhalten der betroffenen Frauen werten, so Mühlberg, aber einen kritischen Umgang mit dieser wahrlich schwer zu stellenden Diagnose anregen, um bei fehldiagnostiziertem angeblichem „Lipödemen“ unnötige Liposuktionen zu vermeiden.
Zum Krankheitsbild Lipödem nach der aktuellen Leitlinie
Das Krankheitsbild Lipödem, welches fast ausschließlich bei Frauen vorkommt, und dessen Diagnostik werden in der aktuellen S2k-Leitlinie „Lipödem“ (Version 5.0 vom 22.1.2024, AWMF-Registernummer: 037-012), erstellt unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie und Lymphologie, beschrieben:
https://register.awmf.org/assets/guidelines/037-012l_S2k_Lipoedem_2024-01_01.pdf
Voraussetzung für die Diagnose eines Lipödems ist das Vorliegen einer im Vergleich mit dem Stamm disproportionalen Fettgewebsvermehrung der Beine unterschiedlichen Ausmaßes sowie seltener auch der Arme bei gleichzeitig vorliegenden Beschwerden im Bereich dieses disproportionalen Fettgewebes.
Die Disproportionalität bei der Erkrankung Lipödem tritt immer symmetrisch an den Beinen und/oder Armen auf. Das Lipödem entsteht ausschließlich an den Extremitäten; weder Rumpf, Kopf noch Hals sind betroffen. Für die Entwicklung eines Lipödems an anderen Körperregionen, vor oder nach Liposuktion, gibt es keinerlei wissenschaftliche Evidenz.
Die Fettvermehrung kann sich homogen über Ober- und/oder Unterschenkel (sog. „Säulenbein”) bzw. Ober- und/oder Unterarm verteilen oder nur die Ober- oder Unterschenkel betreffen. Die Füße bzw. Hände sind nicht betroffen. Als typisch wird der Kalibersprung zur angrenzenden gesunden Region angesehen.
Körperliche Beschwerden werden im Unterhautfettgewebe der betroffenen Extremitäten angegeben: Berührungs-, Druck- und auch Spontanschmerz sowie Spannungs- und Schweregefühl. Die Intensität der Beschwerden wird von den betroffenen Frauen sehr unterschiedlich wahrgenommen.
Eine besondere Rolle in der Beschwerdeschilderung spielt die subjektive Wahrnehmung eines Anschwellens in den betroffenen Extremitäten im Laufe des Tages. In einer vergleichenden Untersuchung an symptomatischen Lipödem-Patientinnen und Gesunden konnte jedoch eine im Tagesverlauf wahrgenommene Schwellung nicht objektiviert werden, was zur Schlussfolgerung führt, dass das Gefühl der Umfangszunahme als Bestandteil des Schmerzerlebens interpretiert werden muss.
Die von Lipödem-Patientinnen häufig berichtete Hämatom-Neigung ließ sich in einer vergleichenden klinischen Untersuchung nicht objektivieren. Eine (angebliche) Hämatom-Neigung kann aufgrund der Studienlage nicht als entscheidendes diagnostisches Kriterium herangezogen werden.
Diagnostik des Lipödems: Häufig mit Adipositas vergesellschaftet
Zur Diagnostik werden in der Leitlinie folgende Empfehlungen gegeben:
- Die morphologische Ausprägung soll beschreibenden Charakter haben und soll nicht im Sinne einer Schweregradeinteilung verstanden werden.
- Die in der Literatur bisher gebräuchliche Stadieneinteilung der Morphologie soll nicht als Maß für die Schwere der Krankheit verwendet werden. Eine Stadieneinteilung für die Beschwerden existiert bisher nicht.
- Das in der Vergangenheit häufig verwendete Kriterium des „knotigen“ Fettgewebes soll wegen fehlender Validität nicht zur Diagnosestellung herangezogen werden.
Neben den Weichteilbeschwerden und der disproportionalen Fettverteilung leidet eine große Anzahl betroffener Frauen, beurteilt nach dem BMI, an Adipositas. Lediglich eine Minderheit ist normalgewichtig. Übergewicht (BMI ab 25 bis unter 30 kg/m²) und Adipositas (BMI ab 30 kg/m²) sind die häufigsten gleichzeitig neben dem Lipödem bestehenden Erkrankungen. Eine Adipositas kann ein Lipödem verschlimmern.
Der Body-Mass-Index (BMI) zur Charakterisierung des Übergewichtes ist bei Lipödem-Patientinnen jedoch nicht aussagekräftig, da er im Bereich von Übergewicht bzw. milder Adipositas aufgrund der Extremitäten-betonten Fettgewebevermehrung zu falsch hohen Werten führt. Eine genauere Aussage zur disproportionalen Fettverteilung ermöglicht die Kombination mit dem Verhältnis zwischen Bauchumfang und Größe (Waist-to-Height Ratio – WHtR).
Die Diagnose Lipödem soll klinisch gestellt werden, da keine richtungsweisenden apparativen und laborchemischen Verfahren vorhanden sind, welche diese Diagnose beweisen können. Zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung können jedoch apparative Untersuchungsmethoden herangezogen werden. Laborchemische Methoden zur Identifizierung eines Lipödems bzw. zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung liegen derzeit nicht vor.
Zudem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die psychische Gesundheit bei Lipödem-Patientinnen stärker beeinträchtigt ist als die körperliche Gesundheit. Neben der rein somatischen Symptomatik müssen beim Lipödem somit auch psychische Koinzidenzen besonders gewürdigt werden: Psychische Belastung sowie Mangel an Selbstakzeptanz bzw. Akzeptanz des eigenen Körpers. Bei der Erstvorstellung sollten daher psychische Faktoren, die beim Erleben des Krankheitsbildes eine Rolle spielen können, erfasst werden, so die entsprechende Empfehlung der Autoren.
Wann besteht die Indikation für eine Liposuktion?
Viel Raum widmet die Leitlinie Behandlungsmethoden wie wirksamen Ernährungsempfehlungen (kohlenhydratarm oder ketogen) und sportlichen Notwendigkeiten, ebenso wie konservativen Strategien, so der Kompressionstherapie zur Schmerzlinderung, betonte Frau Dr. Mühlberg aktuell auf dem 20. Kardiologie-Update-Seminar am 14. und 15. Februar 2025 in Berlin. Großer Wert wird auf das Selbstmanagement und die dabei unabdingbare Übernahme einer aktiven Rolle durch die Lipödem-Patientin gelegt.
Die Liposuktion als operative Methode des Lipödems soll dann berücksichtigt werden, wenn trotz adäquater konservativer Therapie Schmerzen persistieren und Komplikationen, wie z. B. Einschränkungen der Mobilität und/oder dermatologische oder orthopädische Folgeerkrankungen infolge der Fettverteilungsstörung, nachgewiesen sind, so die Leitlinie „Lipödem“. Eine Indikationsstellung zur Liposuktion soll sich aber nicht mehr an der herkömmlichen Stadieneinteilung orientieren, da es keine Korrelation zwischen der Schwere der Symptomatik und Stadieneinteilung gibt.
Umfangsabnahme der Beine und Schmerzregredienz sind zwei Ergebnisse, die mittels Liposuktion erzielt werden können. Eine kritische Indikationsstellung besteht allerdings bei einer Waist-Height-Ratio (WHtR) > 0,55 und einem BMI > 40 kg/m², da hierbei mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Adipositas begleitend ist. Eine koinzidente Adipositas soll deshalb vorrangig behandelt werden.
Hierzu sollte auch ein bariatrischer Eingriff erwogen werden, was bereits in der britischen Lipödem-Behandlungsleitlinie seit 2017 empfohlen wird, erklärte Mühlberg auf dem 15. Interdisziplinären Update-Seminar Gefäßmedizin am 15. und 16. März 2024. Allerdings liegen kaum belastbare Daten zur spezifischen Wirksamkeit bariatrischer Chirurgie auf das Lipödem vor.
Die Bedeutung von Leitlinien in der Begutachtung
Welche Bedeutung einer solchen Leitlinie zukommt, erklärte der (inzwischen verstorbene) Heinz Lanfermann, Ombudsmann Private Kranken- und Pflegeversicherung (PKV), in seinem Tätigkeitsbericht für das Jahr 2022 anhand eines Beispiels aus seinem Schlichtungsalltag:
https://www.pkv-ombudsmann.de/w/files/pdf/tactigkeitsbericht-2022.pdf
Er berichtete über einen Fall, in welchem der Krankenversicherer bei einer Antragsstellerin mit einem Lipödem II. Grades an Armen und Beinen die eine Kostenzusage für eine von den behandelnden Ärzten vorgeschlagene operative Entfernung des Fettgewebes mittels Liposuktion („Fettabsaugung“) an den betroffenen Körperstellen nach mehrfacher Prüfung durch eine Ärztin wegen fehlender medizinischer Notwendigkeit abgelehnt hatte. Der Versicherer erklärte dazu, dass die konservativen Maßnahmen zur Behandlung eines Lipödems nicht erschöpft gewesen seien, und berief sich dabei auf die damalige S1-Leitlinie „Lipödem“:
So sei bei einem Lipödem die kombinierte physikalische Entstauungstherapie (KPE) konsequent anzuwenden. Falls ein Therapieerfolg ambulant nicht zu erzielen sei, könne auch eine stationäre Behandlung erfolgen. Biete die konsequent durchgeführte konservative Therapie keine Linderung, könne nach der Leitlinie letztlich eine Liposuktion angezeigt sein.
Leitlinien der ärztlichen Fachverbände haben als Empfehlungen zwar keinen bindenden Charakter und sind nicht Bestandteil des Versicherungsvertrages, erklärte Lanfermann. Allerdings werden sie von fachkompetenten Ärzten erstellt und basieren auf einer systematischen Recherche, Auswahl und Bewertung wissenschaftlicher Belege zu den relevanten klinischen Fragestellungen. Dabei sind Vertreter der entsprechenden Fachgesellschaften und Organisationen frühzeitig in die Leitlinienentwicklung eingebunden, sodass die Leitlinien den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft aufzeigen und zur Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer Behandlung herangezogen werden können.
Indem die genannte Leitlinie zunächst auf konservative Behandlungsmöglichkeiten des Lipödems abstellt, berücksichtigt sie auch die Schwere des medizinischen Eingriffs, der einer operativen Entfernung des Fettgewebes mittels Absaugung innewohnt, so Lanfermann. Erscheine die Entscheidung des Versicherers – wie in dem vorliegenden Fall – nachvollziehbar und vertretbar, sei eine Schlichtung zugunsten des Antragstellers nicht möglich. Der Ombudsmann konnte somit die Vorgehensweise und Entscheidung des Versicherers nicht beanstanden.
Mit Spannung erwartet: Die Ergebnisse der Studie „LIPLEG – Liposuktion bei Lipödem in den Stadien I, II oder III“
Von besonderer Bedeutung ist zudem die aktuelle Erprobungsstudie „LIPLEG – Liposuktion bei Lipödem in den Stadien I, II oder III“:
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat hohe Erwartungen an diese Studie, betonte Monika Lelgemann, Vorsitzende des Unterausschusses Methodenbewertung beim G-BA, am 26. Juni 2024. „Wir alle sind gespannt auf die Ergebnisse der ersten multizentrischen, randomisierten und kontrollierten Studie zur Liposuktion beim Lipödem“, sagte sie. Die angestoßene Erprobungsstudie solle die Erkenntnislage verbessern, so dass eine zügige abschließende Entscheidung zum Leistungsanspruch möglich werde.
Auf Basis des neuen Wissensstandes will der G-BA beraten, ob die Liposuktion eine reguläre Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird. Daher hat der G-BA am 19.9.2024 zunächst beschlossen, dass befristete Regelung, wonach die Liposuktion bei einem Lipödem im Stadium III unter bestimmten Bedingungen eine Leistung der GKV ist, bis Ende 2025 verlängert wird.
Anmerkung:
Im Dezember 2024 sollten eigentlich dem G-BA die vollständig ausgewerteten Studienergebnisse vorliegen. Bis Redaktionsschluss war darüber aber nichts bekannt.
Zur Abrechnung der Liposuktion nach der GOÄ: BGH schafft Klarheit
Zur Frage, wie die Liposuktion im Rahmen der Behandlung eines Lipödems nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) abzurechnen ist, hat der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 13.6.2024 (AZ: III ZR 279/23) Klarheit geschaffen:
Die Liposuktion wird vom Wortlaut der GOÄ-Nr. 2454 (operative Entfernung von überstehendem Fettgewebe an einer Extremität) unzweifelhaft erfasst. Bei „überstehendem Fettgewebe“ handelt es sich um eine durch zu viel – unterhalb der Hautoberfläche liegendem – Körperfett hervorgerufene Veränderung der natürlichen Körperkontur. Die krankhafte Ansammlung von Fett an Armen und Beinen in Form eines Lipödems erfüllt diese Voraussetzung ohne weiteres.
Auf welche Weise das überschüssige Fettgewebe entfernt wird, wird in der GOÄ nicht festgelegt; darauf kommt es auch nicht an. Entscheidend ist vielmehr, dass die in der Vorschrift beschriebene Zielleistung erreicht wird, und nicht, mit welcher Methode dies geschieht. Eine auf eine Untergliederung von Armen und Beinen in verschiedene Areale bezogene (mehrfache) Abrechnung der GOÄ-Nr. 2454 während einer Sitzung verbietet sich, so der BGH. Auch eine möglicherweise eingetretene Verbesserung und Modernisierung des nach den Angaben des Sachverständigen seit den 1970er Jahren existierenden Verfahrens der Fettabsaugung rechtfertige eine Mehrfachberechnung der Gebühr nicht.
Nachdem die Operationen am 14. August 2018 (Beine außen), am 15. Oktober 2018 (Arme) und am 12. November 2018 (Beine innen) erfolgt waren, war demnach der Ansatz von insgesamt sechsmal GOÄ-Nr. 2454 für die drei Eingriffe an je zwei Extremitäten (Beine innen, Beine außen, Arme) an den genannten drei Operationsterminen berechenbar.
Dr. Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner
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