Zunehmende Einschränkungen der Berufstätigkeit haben in der [privaten] Berufsunfähigkeitsversicherung bei dem erforderlichen Vergleich der aktuellen Berufsfähigkeit mit derjenigen in gesunden Tagen auch dann unberücksichtigt zu bleiben, wenn sie nicht nachweislich ausschließlich leidensbedingt erfolgt sind. So lautet der amtliche Leitsatz eines Urteils des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt vom 18.11.2022 (AZ: 7 U 113/20; nicht rechtskräftig), über welches die Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“ in Heft 2 vom 15. Januar 2023 berichtet.

Der Versicherungsfall in der Berufsunfähigkeit stellt kein punktuelles Ereignis dar, ein schlagartiger Leistungsabfall ist nicht die Regel. Dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens altersbedingt sowie aufgrund von Erkrankungen und Verletzungen Beeinträchtigungen erleiden kann, die sich auf seine berufliche Leistungsfähigkeit auswirken, hat nicht zur Folge, dass sich der bedingungsgemäß festgelegte Grad von Berufsunfähigkeit, der erst Anspruch auf die zugesagten Leistungen gibt, an einem fortlaufend absinkenden Leistungsniveau des Versicherten als Vergleichsmaßstab orientiert, erklären die Frankfurter Richter. Damit wäre die Berufsunfähigkeitsversicherung entwertet.

In den Fällen eines langsam fortschreitenden Leidensprozesses oder Kräfteverfalls würde häufig der Versicherungsfall nicht eintreten, obwohl die Beeinträchtigung des Versicherten, gemessen an seiner Leistungsfähigkeit in gesunden Tagen, 50 % längst erreicht oder gar überschritten hat. Da der Versicherungsfall bedingungsgemäß erst mit dem Erreichen eines bestimmten Grades von Berufsunfähigkeit eintritt, ist die Heranziehung eines Vergleichszustandes für die Ermittlung des maßgeblichen Grades unerlässlich.

Dieser Vergleichszustand kann grundsätzlich nur einheitlich gefunden werden und nicht davon abhängen, ob bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit sich langsam fortschreitend entwickelt hat oder zeitgleich mit einem plötzlichen Ereignis eingetreten ist. Maßgebend ist demnach grundsätzlich die letzte konkrete Berufsausübung, so wie sie in noch gesunden Tagen ausgestaltet war, d.h. solange die Leistungsfähigkeit des Versicherten noch nicht beeinträchtigt war (BGH, Urteil vom 22.09.1993; AZ: IV ZR 203/92).

Eine leidensbedingte Einschränkung der beruflichen Tätigkeit begründet gerade den Versicherungsfall, gegen den sich die versicherte Person mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung nach deren erkennbarem Zweck absichern will. Dass der Versicherungsschutz für ihren Beruf in gesunden Tagen einer zeitlichen Grenze unterliegen könnte, ist für die versicherte Person bei verständiger Würdigung der Bedingungen nicht erkennbar; eine solche einschränkende Regelung ist in den hier maßgeblichen Bedingungen nicht enthalten (BGH, Urteil vom 14.12.2016; IV ZR 527/15).

Danach hat eine krankheits- bzw. leidensbedingte Verkürzung der Arbeitszeit außer Betracht zu bleiben, so das OLG. Zwar möge es gerechtfertigt sein, in Bezug auf den Nachweis eines leidensbedingten Berufswechsels besondere Anforderungen zu stellen. Im zu beurteilenden Fall trugen die Angaben der Klägerin in der Gesamtschau jedoch die Feststellung, dass diese zunehmend leidensbedingten Einschränkungen in der Berufsausübung unterlegen sei und deshalb ihre Arbeitszeit reduziert habe.

 

Anmerkung aus gutachtlicher Sicht

Daraus ergibt sich erneut, dass dem medizinischen Gutachter vom Auftraggeber – Gericht bzw. Versicherungsunternehmen – entsprechend vorzugeben ist, welche konkrete berufliche Tätigkeit er seiner Begutachtung zu Grunde zu legen hat. Gerade bei zunehmender Reduzierung der beruflichen Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen kann es sich dabei durchaus um ein Tätigkeitsprofil aus einer Zeit deutlich vor den (behaupteten) Beginn der Berufsunfähigkeit handeln!

 

Newsletter Ausgabe 01/23