Die Begutachtung des Post-COVID-Syndroms ist problematisch – nicht nur in der besonders betroffenen gesetzlichen Unfallversicherung (Post-COVID-Beschwerden als Berufskrankheit bzw. Arbeitsunfall), sondern auch in der privaten Krankenversicherung (einschl. der Krankentagegeldversicherung) und in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung.

Problematische Diagnosen: ME/CFS und PEM

Von großer Bedeutung ist hier die besonders häufige Fatigue-Symptomatik, eine krankhafte Erschöpfung mit Mühe, sich körperlich, aber auch geistig zu belasten, über welche die meisten der Patienten mit Post-COVID-Syndrom klagen. Bei schwer ausgeprägter Symptomatik wird häufig die Diagnose ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrom) gestellt. International werden verschiedene Kriterienkataloge zur Diagnosestellung vorgeschlagen, die jedoch alle rein symptombasiert sind (was aus gutachtlicher Sicht kritisch zu sehen ist).

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gab dazu in „gesundheitsinformation.de“ am 15. Mai 2023 umfangreiche Informationen, hier kurz zusammengefasst:

  • Was die Erkrankung genau auslöst, ist bislang ungeklärt. Deshalb beschreibt der Name ME/CFS vor allem die Beschwerden: Muskelschwäche, Schmerzen und Erschöpfung.
  • Warum es zu ME/CFS kommt, ist nicht geklärt. Fachleute vermuten, dass verschiedene Organsysteme wie das Immun- und das Nervensystem gleichzeitig fehlgesteuert sind. Häufig beginnt die Erkrankung nach einer viralen Infektion, wie etwa COVID-19.
  • Die sogenannte Post Exertional Malaise (PEM) ist das leitende Merkmal einer ME/CFS. Das bedeutet: Nach körperlichen und geistigen Aktivitäten können Beschwerden zunehmen, wobei häufig leichte Aktivitäten ausreichen. Eine PEM tritt manchmal erst 1 bis 2 Tage nach der Anstrengung auf und kann Tage, Wochen oder auch länger andauern.
  • Es gibt keine Untersuchung, die eine ME/CFS direkt feststellen kann. Daher können verschiedene Untersuchungen bei Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen nötig sein, um andere Erkrankungen zu finden oder auszuschließen.
  • Die Krankheit kann sich sehr unterschiedlich entwickeln. Bei Erwachsenen bleiben sie jedoch meist dauerhaft bestehen und können sich mit der Zeit auch verschlechtern.
  • ME/CFS kann die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Ob es möglich ist, berufstätig zu bleiben, hängt neben der Schwere der Erkrankung auch vom Beruf ab.
  • ME/CFS kann bislang nicht geheilt werden. Es gibt auch keine Medikamente, mit denen die Krankheit behandelt werden kann.

Dieses Konzept vom ME/CFS wird auch von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), der wissenschaftlichen Fachgesellschaft für Allgemeinmedizin, in der aktuelle Version der S3-Leitlinie „Müdigkeit“ (Stand 11/2022) geteilt. Aus gutachtlicher Sicht besonders interessant ist allerdings das ebenfalls in die Leitlinie aufgenommene ausführliche kritische Sondervotum der Fachgesellschaften DKPM, DGPM, DGIM, DGPPN dazu:

  • Die Bezeichnung „ME/CFS“ („ME“ für Myalgische Enzephalomyelitis bzw. Myalgische Enzephalomyelopathie) impliziert eine organische Erkrankung, nämlich eine Entzündung bzw. Erkrankung von Gehirn und Rückenmark. Die historisch wenig distinkt entstandene Bezeichnung „ME“ kann jedoch irreführend verstanden werden. Angesichts vielfältiger Befunde zum „Nocebo“-Effekt sollte die Bezeichnung „ME“ nicht unkritisch weitertransportiert werden.
  • Moderne neuro-psycho-behaviorale Modelle zur Entstehung von belastenden Körperbeschwerden und Fatigue werden in Bezug auf CFS dagegen nicht zureichend thematisiert. Damit wird die Leitlinie in Bezug auf CFS dem Anspruch einer biopsychosozialen Medizin nicht gerecht. So ist die Ätiologie von CFS als multifaktoriell im biopsychosozialen Sinne einzustufen.
  • Unstrittig ist, dass es zu PEM (Post Exertional Malaise) nach vorheriger Anstrengung kommen kann. Allerdings ist diese, wie auch nicht erholsamer Schlaf, unzureichend spezifisch und wird z. B. auch bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom, krebsassoziierter Fatigue und anderen Erschöpfungssyndromen berichtet. Die Betonung von PEM als spezifisches Kennzeichen von bzw. als Warnzeichen für CFS ist somit irreführend.

 

Berufsunfähigkeits- und Krankentagegeldversicherung

Bei der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung und ebenso in der Krankentagegeldversicherung (gehört zur Sparte private Krankenversicherung) ist zu berücksichtigen, dass es sich bei „Berufsunfähigkeit“ bzw. „Arbeitsunfähigkeit“ um eigenständige Begriffe handelt, welche sich von denen in der Sozialversicherung wesentlich unterscheiden. Zudem ist bei der Berufsunfähigkeitsversicherung die konkrete Definition von Berufsunfähigkeit im jeweiligen Vertrag ebenso zu berücksichtigen wie eventuelle individuelle Ausschlussklauseln.

Entscheidend ist in beiden Versicherungszweigen der medizinische Befund, der ggf. durch einen Gutachter (Sachverständigen) erhoben werden muss. Der Nachweis von COVID-19 als Ursache der Beschwerden ist dagegen nicht erforderlich.

Die Begutachtung sowohl in der Berufsunfähigkeits- als auch in der Krankentagegeldversicherung bezieht sich auf die konkret ausgeübte berufliche Tätigkeit (mit den entsprechenden Teiltätigkeiten). So kann etwa eine anhaltende Störung des Geruchs und Geschmacks, wie sie gelegentlich nach Infektionen mit den ersten SARS-CoV-2-Varianten zu beobachten war, bei einem Koch zu Berufsunfähigkeit führen, wenn ein entsprechendes Berufsbild gesichert ist (und nicht etwa die Leitung einer Kantine oder eines Biergartens).

Wichtig in der Begutachtung für die Berufsunfähigkeitsversicherung ist schließlich, dass der Versicherer eine Nachprüfung ansetzen kann zur Klärung, ob weiterhin Berufsunfähigkeit vorliegt. Voraussetzungen für eine Einstellung der Leistung durch den Versicherer sind dann:

  1. Der Gesundheitszustand hat sich nachweisbar verbessert.
  2. Daraus ergeben sich Auswirkungen auf die berufliche Leistungsfähigkeit.

Daher ist eine möglichst differenzierte Begutachtung mit konkreten Aussagen zu den gesundheitlichen Einschränkungen in den einzelnen beruflichen Teiltätigkeiten bei der Erstprüfung auf Berufsunfähigkeit erforderlich. Das ist gerade bei unspezifischen Beschwerden wie Fatigue zwar schwierig, aber wichtig, zumal Fatigue-Symptome beim Post-COVID-Syndrom in der Regel eine Besserungstendenz zeigen.

Private Krankenversicherung (PKV)

Nach MB/KK § 1 Abs. 2 (Musterbedingungen des Verbandes der privaten Krankenversicherung für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung) gilt als Versicherungsfall die medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfallfolgen.

Zur Therapie des Post-COVID-Syndroms gilt jedoch weiterhin, dass evidenzbasierte, kausale Behandlungsmöglichkeiten derzeit nicht existieren. So erklärte der Arbeitskreis „Long-COVID“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer im Deutschen Ärzteblatt vom 27.1.2023:

„Es gibt nur wenige interventionelle Studien, auch zu nicht etablierten Methoden der Medizin, ohne dass bisher ein therapeutisches Konzept genügend durch Studien abgesichert werden konnte. Daher können zu vielen Verfahren, auch zu Apherese, Vitaminsubstitution oder anderen medikamentösen Interventionen keine verlässlichen Empfehlungen abgegeben werden. Aktuelle Therapiekonzepte stützen sich daher auf einen interdisziplinären, pragmatischen Ansatz, Maßnahmen der physikalischen Rehabilitation sowie symptomorientierten Therapie der unterschiedlichen Organstörungen.“

Beworben – und von verzweifelten Patienten nachgefragt – werden nun häufig teure und in den Medien propagierte Behandlungsmethoden, etwa Immunadsorption / Apherese-Verfahren.

Diese sollen jedoch nur in schweren Fällen von Post-COVID und auch dann nur in Studien eingesetzt werden, wie sowohl die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) als auch die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie (DGfN) betonen:

  • Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) lehnt zum gegenwärtigen Zeitpunkt Apherese-Verfahren bei Post-COVID-Symptomen außerhalb von klinischen Studien ab, wie im Newsletter des Deutschen Ärzteblatts am 3.4.2023 berichtet wurde. „Bislang ist nicht erwiesen, ob Autoantikörper die neurologischen Post-COVID-Symptome tatsächlich auslösen“, sagte der DGN-Generalsekretär Peter Berlit. Andere Krankheitsursachen, die diskutiert würden, seien unter anderem eine Viruspersistenz, die Aktivierung anderer Viren, ein Kortisonmangel oder psychische Erschöpfung. Eine Apherese könnte in diesen Fällen wenig ausrichten, womöglich sogar schaden.
  • Plasmaaustausch und Immunadsorption werden bei einer Reihe von Autoimmunerkrankungen erfolgreich eingesetzt, erklärte die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie (DGfN) am 11.8.2022. Auf dieser Basis könnte daher die Grundlage für einen Therapieversuch in sehr schweren Fällen des Long-COVID-Syndroms, insbesondere bei Patienten mit Long-COVID und Antikörpernachweis, entstehen. Derzeit sind aber weder die Bedeutung der Antikörper noch die Wirksamkeit dieser Verfahren in diesem Zusammenhang wissenschaftlich bewiesen und kommen somit als Therapieverfahren zurzeit nicht infrage.

Zudem sind folgende Ausführungen aus der Ärzte Zeitung vom 9.1.2023 zu berücksichtigen: Hunderte verzweifelter Post-COVID-Patienten lassen sich für viel Geld per Apherese behandeln. Für die meisten wären jedoch Gespräche und eine Abklärung der Ursachen hilfreicher, erklärte die DGfN-Sprecherin Julia Weinmann-Menke.

Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner