Die Bewertung von bleibenden Funktionsstörungen nach Verletzungen gehört zur Kerntätigkeit eines jeden Unfallchirurgen und Orthopäden. Aus der Kenntnis der Verletzung und der sorgfältigen Beschreibung der Funktionsstörungen leitet der Gutachter einen Vorschlag für die Höhe der Invalidität in der privaten Unfallversicherung und die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Die Empfehlungen orientieren sich an Tabellen die eine lange historische Tradition haben.

Die private Unfallversicherung – Vorläufer der gesetzlichen Unfallversicherung

Die Ausbreitung des Versicherungswesens war mit der rasch fortschreitenden Industrialisierung und den Gefahren der Produktion im 19. Jahrhundert verbunden. Die Einführung der Eisenbahnen gab dieser Entwicklung eine neue Dynamik. Zur Absicherung der mit dem Eisenbahnverkehr verbundenen Gefahren und den Folgen anderer unerwarteter Ereignisse mit hohem Schadenspotential wurden Haftpflichtversicherungen gegründet.

In diesem Umfeld entstanden „als Nebenprodukt“ die ersten privaten Unfallversicherungen. Im Jahre 1853 gründeten die Versicherungsgesellschaften „Viktoria“ und „Thuringia“ je eine „Allgemeine Eisenbahnversicherungsgesellschaft“. Um die mit dem Haftpflichtrecht verbundenen finanziellen Risiken zu minimieren, schlossen viele Unternehmer kollektive Unfallversicherungen für ihre Mitarbeiter ab. Damit übertrugen sie die Risiken auf die Versicherungen.

Die „Gliedertaxe“ wird zum Maßstab für die Invalidität in der privaten Unfallversicherung

Die Versicherungsbedingungen der frühen privaten Unfallversicherungen unterschieden sich von Gesellschaft zu Gesellschaft erheblich. So versicherte die „Rhenania“ (Köln) 1873 Personen für „den Fall des Todes“ und oder „den Fall der lebenslänglichen gänzlichen oder teilweisen Erwerbsunfähigkeit (Invalidität)“.

Die volle Versicherungssumme wurde bei dem Tod des Versicherten fällig. Bei „Unfällen, welche völlige Erwerbsunfähigkeit für die ganze Lebensdauer des Betroffenen zur Folge“ hatten, wurde eine lebenslange Rente gewährt. Die volle Invalidität wurde angenommen bei „Verlust beider Hände oder beider Füße, oder je eines von zweien dieser Glieder, völlige Erblindung beider Augen, vollständiger und unheilbare Lähmung“. Bei „Halbinvalidität“ – „Verlust eines Auges, einer Hand oder eines Fußes“ wurden „50% der vollen Rente“ gezahlt. Die weitere prozentuale Invalidität wurde wie folgt entschädigt:

„Ist die Erwerbsfähigkeit durch die Verletzung zwar dauernd für das ganze Leben, jedoch in noch geringerem Maße als vorstehend angegeben geschädigt, so wird nur eine im Verhältnis der verminderten Erwerbsfähigkeit zu reduzierende Rente gewährt.“

In den folgenden Jahren weiteten die Versicherungsgesellschaften ihre Leistungen aus und führten Gliedertaxen ein, die eine differenziertere Einschätzung der Unfallfolgen und der auszuzahlenden Leistungen ermöglichten. Als frühes Beispiel sei die Gliedertaxe der Kölnischen Versicherungs-Gesellschaft angeführt.

Gliedertaxe der Kölnischen Versicherungs-Gesellschaft (vor 1889)

Verlust
Prozentsatz
Verlust beider Augen, Arme oder Beine
100%
Verlust eines Auges
33,5%
Verlust rechter Arm 60%
Verlust linker Arm 40%
Verlust eines Beins oder Fußes 50%
Verlust rechter Daumen bis zu 22%
Verlust linker Daumen
bis zu 14%


Bis 1899 hatten alle privaten Unfallversicherungen Gliedertaxen in ihre Policen aufgenommen.

1884: Die gesetzliche Unfallversicherung verdrängt die private Unfallversicherung

Das Geschäft der privaten Unfall- und Haftpflichtversicherungen entwickelte sich nach 1871 sehr vorteilhaft. Der Wunsch, die Arbeiterschaft durch sozialpolitische Entscheidungen zu befrieden, war ein wesentliches Motiv zur Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung.

Für die erst seit kurzer Zeit tätigen privaten Unfallversicherungen stellte die Vorbereitung der Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung das bisherige Geschäftsmodell in Frage. Das geplante Monopol des Staates machte die private Unfallversicherung scheinbar überflüssig. Mehrere private Versicherungsunternehmen sahen sich nach Einfügung der gesetzlichen Unfallversicherung gezwungen, den Geschäftsbetrieb einzustellen. Die Prämieneinnahmen der privaten Unfallversicherungen schrumpfen direkt nach der Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung um mehr als 50%. Sie sanken von 11 Millionen Mark im Jahr auf 4,5 Millionen Mark.

Ein Teil der entlassenen Mitarbeiter der privaten Unfallversicherungen wurde von den gesetzlichen Unfallversicherungen übernommen. Sie brachten ihre Erfahrung in die neu gegründeten Berufsgenossenschaften ein.

Die gesetzliche Unfallversicherung übernimmt die Invaliditätstabellen der privaten Unfallversicherung

Der Arzt Ferdinand Bähr, der die Modalitäten der Entschädigung zwischen den privaten und gesetzlichen Unfallversicherungen 1899 verglich, wies nach, dass die anfänglichen Vorgaben für die Entschädigungen von Unfallverletzungen der Berufsgenossenschaften von der Praxis der privaten Unfallversicherung geprägt waren:

„Begreiflicherweise hat die durch Gesetz eingeführte Unfallversicherung von der privaten profitiert, sie hat sich dieselben schon deshalb angeeignet, weil Beamte der letzteren bei der ersteren thätig wurden, und es lässt sich leicht erkennen, wie die Grundsätze der Entschädigung aus der Privatunfallversicherung bezogen wurden.“

Diese Argumentation ist plausibel; auch Ludwig Becker, Verfasser des ersten Handbuchs der Begutachtung äußerte sich in gleicher Weise. Der Autor verglich die Tabellen der der Kölnischen Versicherung mit denen der „Konferenz von Ärzten der Eisenbahn-Werkstätten“ (um 1888) der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Entschädigungstabellen der gesetzlich versicherten Eisenbahnarbeiter orientierten sich an den Vorgaben der privaten Unfallversicherung. Ausgewiesen wurde der „Grad der Einbußen der Arbeitsfähigkeit“.

Vorschläge zur Einschätzung der Erwerbsminderung durch die „Konferenz von Ärzten der Eisenbahn-Werkstätten“ (um 1888) der gesetzlichen Unfallversicherung

Verlust
Prozentsatz
Verlust beider Augen, beider Arme, beider Hände, beider Beine, beider Füße, je ein Arm, eine Hand und ein Fuß
100%
Verlust rechte Hand
60%
Verlust Fuß 50%
Verlust linke Hand 40%
Verlust rechter Daumen 33 1/3%
Verlust ein Auge 22%
Verlust linker Daumen
14%
Verlust übrige Finger rechte Hand 6%
Verlust übrige Finger linke Hand 4%

Die Metamorphose der Gliedertaxe: Aus „Invalidität“ wird „Erwerbsminderung“ und Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)

Die Gliedertaxen der privaten Unfallversicherungen unterschieden sich nur graduell von den Werten der gesetzlichen Unfallversicherung. Becker konstatierte: „Die meisten Versicherungs-Gesellschaften und Berufsgenossenschaften richten sich nach diesen oder ähnlichen Sätzen.“ Wesentliche Bezugspunkte beider Versicherungen blieben gleich. Die aus der privaten Unfallversicherung kommende Gliedertaxe wurde zum festen Bestandteil der gesetzlichen Unfallversicherung.

Zuvor musste ein Weg gefunden werden, die Höhe der Entschädigungen nach der Gliedertaxe, welche die Unternehmerhaftpflicht ablöste, zu begründen. Dabei galt es, in der Terminologie des Haftpflichtrechts zu bleiben. Der Verlust der körperlichen Integrität (Invalidität) wurde in die „Erwerbsminderung“ (EM) bzw. die „Minderung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“ (MdE) umdefiniert. Die Werte der Gliedertaxe für den Verlust eines Armes oder eines Beines finden ihre Entsprechungen in der Höhe der MdE.

Nach der Einführung des Unfallversicherungsgesetzes überließ der Reichstag den Berufsgenossenschaften und dem Reichsversicherungsamt (RVA) die Definition der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Maßgeblich wurde die Entscheidung des RVA vom 26.11.1887:

„Bei der Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit eines Verletzten im Allgemeinen darf nicht lediglich das bisherige Arbeitsfeld des zu Entschädigenden und der Verdienst, welche er nach der Verletzung noch hat, in Rücksicht gezogen werden. Vielmehr ist einerseits der körperliche und geistige Zustand in Verbindung mit der Vorbildung desselben zu berücksichtigen und andererseits zu erwägen, welche „Fähigkeit“ ihm zuzumessen sei, auf dem Gebiete des wirthschaftlichen Lebens sich einen „Erwerb“ zu verschaffen („Erwerbsfähigkeit“). Es soll ihm nach dem Gesetze derjenige wirthschaftliche Schaden, welcher ihm durch die Verletzung zugeführt worden ist, ersetzt werden, und dieser Schaden besteht in der Einschränkung der Benutzung der dem Verletzten nach seinen gesammten Kenntnissen und körperlichen Fähigkeiten auf dem ganzen wirthschaftlichem Gebiet sich bietenden Arbeitsgelegenheiten.“

Warum sind die MdE-Werte seit 140 Jahren stabil?
Die MdE ist in Wirklichkeit eine Metapher für die Gliedertaxe der privaten Unfallversicherung

Diese Interpretation aus dem Jahr 1887 hat bis heute Bestand. In dem seit 1.1.1997 gültigen SGB VII, „Gesetzliche Unfallversicherung“, wird der MdE im § 56.2 definiert, sie „richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens“. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts schließt sich bis heute nahtlos an die Entscheidung des Jahres 1887 an.

Die „Umetikettierung“ von „Invalidität“ in MdE konnte reibungslos umgesetzt werden, da die Werte der Gliedertaxe historisch gewachsen und gesellschaftlich akzeptiert waren. Sie galten als „gerecht“.

Das Reichsversicherungsamt und der Gesetzgeber des SGB VII waren sich allerdings nicht bewusst, dass sie die Gliedertaxwerte übernahmen. Hätten sich die MdE-Werte tatsächlich an den Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt orientiert, so wären diese seit 1884 bis in die Gegenwart z. B. bei Amputationen kontinuierlich gesunken. Ein immer kleinerer Anteil der Beschäftigten übt körperlich anstrengende Arbeiten aus. Zudem hat sich die Prothesentechnik vom Stelzbein des 19. Jahrhunderts bis zum C-Leg kontinuierlich weiterentwickelt. Heute können Beinamputierte auch Arbeiten zum Teil im Stehen und Gehen ausüben – Tätigkeitsbereiche, die ihnen hundert Jahre zuvor verschlossen waren.

Die Entschädigung von Fingerverletzungen

Allerdings bewahrte sich die gesetzliche Unfallversicherung einen größeren Spielraum bei der Entschädigung. Während die Bedingungen der privaten Unfallversicherung eine höhere Entschädigung bei dem Verlust eines Teils oder der ganzen Gliedmaße per Definition ausschlossen, stellte die gesetzliche Unfallversicherung auf die konkrete Beeinträchtigung und die damit verbundene fiktive MdE ab. Zudem wurden die Fingerverletzungen nicht mehr individuell nach der Gliedertaxe entschädigt, sondern in die MdE „umgerechnet“.

Um den Ärzten, der Verwaltung und den Gerichten diese Umrechnung zu erleichtern, finden sich bis heute in den Standardwerken für die Begutachtung Abbildungen, die die Umrechnung der „Gliedertaxe Finger“ in die MdE erleichtern. Die Abbildungen gehen auf Entscheidungen des Reichsversicherungsamts zurück.

Während die Begutachtung von Fingerverletzungen nach der Gliedertaxe in der privaten Unfallversicherung bis heute Bestand hat, tat und tut sich die gesetzliche Unfallversicherung mit der Umrechnung von Fingerwerte in MdE-Werte schwer: Auch nach schweren Fingerverletzungen mit einer dauerhaften MdE unter 20 v. H. erhalten die Versicherten im Gegensatz zur privaten Unfallversicherung allenfalls eine kleine Zeitrente.

Aufgabe des Gutachters: Unterschiede der privaten und gesetzlichen Unfallversicherung beachten

Trotz aller historischen Parallelen zwischen der Gliedertaxe in der privaten Unfallversicherung und der MdE in der gesetzlichen Unfallversicherung ist der Gutachter gehalten, in jedem Fall die aktuelle und jeweils rechtlich gültige Definition der Invalidität in der privaten Unfallversicherung (Allgemeine Unfallversicherungsbedingungen – AUB) und die Definition der MdE bei der Begutachtung für die gesetzliche Unfallversicherung zugrunde zu legen.

Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Rheumatologie, Sozialmedizin

 

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