Die Begutachtung chronischer Schmerzen sowie deren Auswirkungen etwa auf die berufliche Leistungsfähigkeit ist besonders problematisch, da es sich bei Schmerz um eine subjektive Empfindung (bzw. Erfahrung) handelt. Chronische Schmerzen sind multifaktoriell bedingt, wobei biologische, psychologische und soziale Faktoren zum Schmerzerleben beitragen.
Daher wird in der aktuellen 5. Version der S2k-Leitlinie „Ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen“ („Leitlinie Schmerzbegutachtung“, AWMF-Registernummer 187-006) vom August 2023 betont, dass die Klärung der Frage, ob und inwieweit die von zu Begutachtenden geklagten Beschwerden (Schmerzen), Funktionsbeeinträchtigungen sowie Einschränkungen in Aktivität und Teilhabe tatsächlich auch bestehen, eine wesentliche Kernaufgabe der ärztlichen Begutachtung darstellt.
Dabei sind folgende Begriffe (für sog. „symptommodulierende Darstellungsformen“) zu unterscheiden:
- Verdeutlichungstendenzen sind der Begutachtungssituation durchaus angemessen und dürfen nicht mit Simulation oder Aggravation gleichgesetzt werden. Es handelt sich hierbei um den mehr oder weniger bewussten Versuch, den Gutachter vom Vorhandensein der Schmerzen und damit einhergehender Funktions- und Leistungseinschränkungen zu überzeugen.
Verdeutlichung ist aber auch ein Merkmal von Somatisierungen. Kenntnisse über dieses störungsimmanente Verhalten sollte jeder Gutachter haben.
Zwischen Verdeutlichung und Aggravation gibt es fließende Übergänge. Diese sind im Einzelfall konkret darzustellen und in Hinblick auf die Gesamteinordnung / Bedeutung zu diskutieren. - Aggravation ist die bewusste verschlimmernde bzw. überhöhende Darstellung einer krankhaften Störung zu erkennbaren Zwecken. Sie ist in der Begutachtungssituation relativ häufig zu beobachten.
- Simulation ist das bewusste und ausschließliche Vortäuschen einer krankhaften Störung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken. Simulation gilt in der Schmerzbegutachtung als selten.
- Dissimulation ist demgegenüber eine herunterspielende Darstellung von Beschwerden, z.B. aufgrund einer Verdrängung oder Verleugnung gesundheitlicher Probleme. Sie muss abgegrenzt werden von einer organisch begründeten verminderten Wahrnehmungsfähigkeit von Körperbeschwerden (z.B. bei diabetischer Neuropathie).
Manche zu Begutachtende neigen dazu, psychische Symptome dissimulierend darzustellen, um auf diese Weise auf die Bedeutung körperlicher Faktoren oder behandlungsresistenter körperlicher Schäden hinzuweisen. Andere Probanden stellen psychische Symptome dissimulierend dar, weil sie diese als selbstwertbedrohlich erleben. Dissimulation kann in diesem Kontext als ein Indikator für eine stärkere Beeinträchtigung psychischer Funktionen gedeutet werden. Auch wenn grundsätzlich die Nachweispflicht bei dem zu Begutachtenden liegt, ist eine Kenntnis dieser Phänomene beim Gutachter zu erwarten. Sie sind im Gutachten zu benennen und ggf. in der Gesamtbeurteilung zu berücksichtigen.
(Anmerkung: Dissimulation kann dem Gutachter gerade in der privaten Krankentagegeldversicherung unterkommen, wenn nämlich der Versicherer aufgrund lange anhaltender Schmerzen ohne erkennbare Besserung von Berufsunfähigkeit ausgeht und daher seine Leistungen einstellen möchte.)
Methoden der Beschwerdenvalidierung bzw. Konsistenzprüfung
Zur Validierung der Auswirkungen der angegebenen Schmerzen auf Aktivitäten und Teilhabe bzw. die Leistungsfähigkeit (als Beschwerdenvalidierung – synonym Konsistenzprüfung – bezeichnet) gilt es, möglichst viele „Bausteine“ heranzuziehen, aus denen die gutachtliche „Überzeugungsbildung“ resultiert. Hierzu gehören – in Abgleich mit den Unterlagen – die Aussagen des zu Begutachtenden, die Beobachtung während der Exploration und der körperlichen Untersuchung, spezielle klinische Tests, Selbstbeurteilungsskalen und psychologische und physiologische Tests sowie ggf. ein Monitoring des Blutspiegels der als eingenommen angegebenen Medikamente.
Klinische Beschwerdenvalidierung
Die körperliche Untersuchung stellt bereits eine Testsituation dar. Darüber hinaus können (standardisierte) Tests durchgeführt werden – in Abhängigkeit vom beklagten Beschwerde- und Beeinträchtigungsmuster. Wesentlich bei allen physiologischen Testungen ist die Präsentation von Körperfunktionen nach Aufforderung. Dabei bleibt der Untersucher Beobachter, unterstützt den Probanden aber verbal.
Beschwerdenvalidierung anhand der Selbstbeurteilung
Für die klinische (Verlaufs-) Beurteilung von Schmerzen, der hierdurch bedingten körperlichen und psychischen Funktionsbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen findet sich in der Literatur ein umfassendes Arsenal an Fragebögen und Selbstbeurteilungsskalen. Deren Einsatz wird zumindest im Sozialgerichtsverfahren ausdrücklich gefordert oder zumindest befürwortet, so die Autoren der Leitlinie.
Allerdings kann aus solchen Fragebögen und Selbstbeurteilungsskalen allein keine Diagnose oder Funktionseinschränkung begründet werden. Insbesondere sind die Subjektivität der Angaben und die mögliche Intentionalität zu berücksichtigen.
Neben der Ergänzung der Eigenschilderung von Beschwerden und deren Auswirkungen dienen Fragebögen und Selbstbeurteilungsskalen im gutachtlichen Kontext daher vor allem der Beschwerdenvalidierung, indem die gemachten Angaben mit dem klinischen Bild korreliert werden. Fragebögen geben Auskunft über verschiedene Bereiche, von denen in umfangreicheren Fragebögen (z.B. Deutscher Schmerzfragebogen) bereits mehrere enthalten sind.
Neuropsychologische Beschwerdenvalidierungstests
Im Zusammenhang mit der Vortäuschung kognitiver Störungen nach Schädel-Hirn-Traumen wurden von neuropsychologischer Seite zahlreiche Tests zur Erkennung einer unzureichenden Leistungsmotivation bei neurokognitiven Defiziten entwickelt.
Das Grundproblem aller dieser Tests liegt jedoch darin, dass der eindeutige Nachweis für Simulation, das Unterschreiten der Ratewahrscheinlichkeit von 50 % richtiger Antworten, nur selten – bei grober Vortäuschung von Beschwerden – erreicht wird. Im „Zwischenbereich“ zwischen Ratewahrscheinlichkeit und 100%iger Treffsicherheit berufen sich alle Tests auf die Ergebnisse von Validierungsstudien. Neben Simulation oder Aggravation können auffällige Ergebnisse in diesem Bereich jedoch auch Folge dissoziativer, somatoformer und/oder depressiver Störungen sowie der Nebenwirkungen psychotroper Substanzen sein.
Der Einsatz neuropsychologischer Beschwerdenvalidierungstests bei Schmerzsyndromen macht daher nur Sinn, wenn gleichzeitig neurokognitive Defizite geklagt werden. Doch selbst dann sind derartige Tests nur eine Ergänzung zum klinischen Eindruck und anderen Inkonsistenzen in der Begutachtungssituation, betonen die Autoren.
Medikamentenmonitoring
Bedeutung bei der Konsistenzprüfung der gemachten Angaben kommt im Einzelfall auch dem Serumspiegel der aktuell als eingenommen beschriebenen Medikamente zu, z.B. bei geklagten Medikamenten-assoziierten Nebenwirkungen. Allerdings sagt ein nicht im therapeutischen Bereich liegender, zu niedriger Medikamentenspiegel wenig darüber aus, ob ein Medikament regelmäßig eingenommen wird oder nicht, da 5 % bis 10 % der Bevölkerung „Ultrarapid Metabolizer“ sind.
Da die Adhärenz zur Medikamenteneinnahme z.B. wegen unzureichender Wirkung oder erlebten bzw. befürchteten Nebenwirkungen generell gering ist, kann aus einer fehlenden Medikamenteneinnahme nicht auf Aggravation rückgeschlossen werden. Wird dagegen auf entsprechende Nachfrage bei der gutachtlichen Untersuchung von den Untersuchten ausdrücklich bestätigt, dass sie im Zeitraum der entsprechenden Medikamenten-Halbwertszeit bestimmte Medikamente in relevanter Dosierung eingenommen haben, stellt der fehlende Nachweis im Blutserum einen „Baustein“ der Beschwerdenvalidierung dar. Eine Einschränkung der berichteten Einnahme erst bei Aufklärung über eine beabsichtigte Blutspiegel-Prüfung ist ein weiterer Hinweis auf eine Verzerrung.
Fazit
Unter Berücksichtigung der genannten „Bausteine“ ist es Aufgabe des medizinischen Sachverständigen, dem Auftraggeber des Gutachtens detailliert darzulegen, aufgrund welcher konkreten Befunde er zu der Überzeugung gelangt, dass die Schmerzen in der geklagten Form bestehen und zu den beklagten Einschränkungen führen bzw. aufgrund welcher Auffälligkeiten diese Überzeugung nicht zustande kommt, erklären die Leitlinien-Autoren abschließend.
Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner
Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Rheumatologie, Sozialmedizin Ko-Autor der Leitlinie