Seminar des IVM am 19.9.2024 in Frankfurt

Die rechtlichen und medizinischen Grundlagen der Begutachtung und Leistungsregulierung in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung, Krankentagegeldversicherung und Grundfähigkeitsversicherung waren Thema eines Seminars des IVM am 19. September 2024 in Frankfurt/Main, geleitet von Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann.

Juristische und berufskundliche Aspekte

Einen Überblick über die Grundlagen der Grundfähigkeitsversicherung gab der Rechtsanwalt Oliver Tammer von der Rechtsanwaltskanzlei BLD in Frankfurt. Versichert ist dabei der Verlust bestimmter elementarer körperlicher oder geistiger Fähigkeiten wie etwa Sehen, Sprechen oder der Gebrauch der Hände.

Dabei arbeiten alle Versicherer mit Fähigkeitskatalogen. Unerheblich sind dabei in der Regel die Ursache des Wegfalls der Fähigkeit(en) sowie die Auswirkungen auf die Berufs- oder Erwerbsfähigkeit.

Nachdem es sich bei der Grundfähigkeitsversicherung um ein vergleichsweise junges Versicherungsprodukt handelt, gibt es allerdings so gut wie keine Standardisierung: Keinen gesetzlichen Rahmen und keine allgemein verbindlichen Musterbedingungen, so Tammer. In der Folge unterscheiden sich nicht nur die Versicherungsprodukte einzelner Anbieter zum Teil erheblich, sondern oft auch die Bedingungsgenerationen der einzelnen Versicherer.

Der Rechtsanwalt und Mediator Stefan Wachholz, Leiter Recht & Außendienst und Mediator beim IHR Rehabilitationsdienst in Köln, betonte die Wichtigkeit des konkreten Berufsbildes in der Begutachtung für die Berufsunfähigkeitsversicherung und kritisierte: „Oft steht in medizinischen Gutachten kaum etwas zum Beruf!“

Als Kernaufgaben des medizinischen Sachverständigen gab Wachholz hierzu an:

  • Die Feststellung und Beschreibung des relevanten medizinischen Status, der eine spätere Vergleichsbetrachtung (für eine evtl. Nachprüfung) ermöglicht
  • Die Bestimmung des positiven und des negativen Leistungsvermögens entsprechend der erhobenen Befunde
  • Eine konkrete Darstellung und Bewertung (nach Art eines Stundenplans), welche vorgegebenen beruflichen Teiltätigkeiten noch in welchem Umfang möglich / nicht möglich / nur noch teilweise möglich sind

Allerdings kann es auch Fälle geben, in denen Berufsunfähigkeit bereits dann angenommen werden muss, denn der Versicherungsnehmer prägende Teile seiner beruflichen Tätigkeit krankheitsbedingt nicht mehr ausüben kann. Als Beispiel nannte Wachholz Berufsunfähigkeit eines Notarztes (wenn die körperlichen Anforderungen beim konkreten Einsatz im Voraus nicht feststehen), wenn nennenswerte körperliche Belastungen nicht möglich sind, wie etwa die Behandlung liegender Verletzter in kniender Stellung (OLG Saarbrücken, VersRecht 2012).

Kriterien der Gutachtenerstellung und Qualitätsanforderungen an Gutachten

Medizinische Gutachter sollten bei gleicher Ausgangslage auch zu gleichen Ergebnissen kommen, forderte der Tagungsleiter Prof. Dr. Thomann. Während bei der Einhaltung medizinisch-wissenschaftlicher Kriterien verschiedene Gutachter beim medizinischen Teil zu den gleichen Ergebnissen kommen, ist das beim versicherungsrechtlichen Teil, zu dem etwa die Quantifizierung von Funktionseinschränkungen gehört, oft nicht der Fall.

Als Kriterien für die Qualität eines Gutachtens nannte er v. a.:

  • Strukturierte Ausarbeitung des Gutachtens
  • Exakte Dokumentation der Befunde (und der sich daraus ergebenden Leistungseinschränkungen)
  • Begründete Diagnosen
  • Eindeutige Beurteilung der Leistungsfähigkeit mit Erstellung eines positiven und eines negativen Leistungsbildes
  • Logische und widerspruchsfreie Argumentation
  • Explizite Beantwortung der Fragen
  • Verständlichkeit des Gutachtens (auch für medizinische Laien)
  • Bereitschaft zur Kommunikation bei Rückfragen des Auftragsgebers

Wichtig sei auch Transparenz des Ablaufs der Begutachtung gegenüber dem Probanden, betonte Thomann: „Es wird nichts hinter Ihrem Rücken gemacht; Sie erhalten das Gutachten über Ihre Versicherung.“

Die Qualitätsanforderungen an medizinische Gutachten in der Berufsunfähigkeits-, Krankentagegeld- und Grundfähigkeitsversicherung aus versicherungsmedizinischer Perspektive beschrieb der Leitende Gesellschaftsarzt Dr. Jens Rickmann von der Alte Leipziger Lebensversicherung in Oberursel:

  • Der Auftraggeber (die Versicherung) erwartet vom Gutachter ein inhaltlich richtiges und neutrales Gutachten, welches sowohl dem Auftraggeber als auch dem Probanden (dem Versicherungsnehmer) sprachlich verständlich ist.
  • Der Gutachter soll eine Beurteilung und Begründung der Leistungsfähigkeit des Probanden (mit positivem und negativem Leistungsbild) für die zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit aufgrund der erhobenen Befunde abgeben.
  • Dabei soll er die an ihn gestellten Fragen anhand des konkreten Berufsbildes umfassend und fundiert beantworten.
  • Bei einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit muss die Beschreibung der funktionellen Kapazität Vorrang haben vor der formal Diagnose-bezogenen Einschätzung.

Die Bestimmung des leistungsauslösenden Grades in der Berufsunfähigkeitsversicherung (meist 50 %) stellt allerdings eine Mischung aus rechtlichen und medizinischen Aspekten dar und obliegt nicht dem Gutachter, sondern ausschließlich dem Versicherer, betonte Rickmann.

Medizinisch-fachärztliche Begutachtung aus onkologischer und psychiatrischer Sicht

Die Begutachtung onkologischer Patienten thematisierte Prof. Dr. Ulf Seifart, Chefarzt der Klinik Sonnenblick in Marburg/Lahn. Die Thematik gewinnt immer mehr an Bedeutung, da – gerade unter modernen immun-onkologischen Therapien – viele onkologische Patienten eine deutlich bessere Prognose haben als noch vor 20 Jahren. Darauf müsse sich die sozialmedizinische Begutachtung einstellen.

Häufig sind es inzwischen die Nebenwirkungen der onkologischen Therapie, welche die Leistungsfähigkeit oft stärker einschränken als die Erkrankung selbst. So sind unter immun-onkologischer Therapie vor allem Autoimmunerkrankungen zu beachten, etwa die bei 40 % bis 50 % der Patienten eintretende Hypothyreose.

In der Leistungsbeurteilung bei onkologischen Patienten gilt das Prinzip „Funktionseinschränkungen vor Prognose“, erklärte Seifart.

Besondere Bedeutung hat zudem die Tumor-assoziierte Fatigue, einer der häufigsten und stärksten Belastungsfaktoren bei Krebserkrankungen. Die Symptomatik der Fatigue ist vielschichtig und reicht von Gefühlen der Abgeschlagenheit und mangelnder Energie über Antriebs- und Interessenlosigkeit bis hin zu Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Die empfundenen Einschränkungen und Symptome werden von den Betroffenen unterschiedlich beschrieben und ausgedrückt.

Unter einer konsequenten Behandlung und bei einem stabilen sozialen Umfeld könne etwa psychische Komorbiditäten bzw. Minderbelastbarkeit bei Tumorpatienten in der Regel kompensiert werden und führen nicht zu einer langfristigen Einschränkung der Leistungsfähigkeit, so Seifart.

Verschieden Chemotherapeutika sind Ursache einer Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie (CIPN) mit funktionellen Einschränkungen v. a. der Hände und/oder der Füße. Die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit bei Polyneuropathie muss differenziert erfolgen, wie folgende Beispiele zeigen:

  • Bei hohen Anforderungen an das Tastvermögen können sich unter Umständen schon bei einer umschriebenen Taubheit an den Fingerspitzen (CIPN I) relevante Einschränkungen ergeben, etwa bei medizinischem Assistenzpersonal, bei Berufsmusikern oder bei Laborarbeitern.
  • Bei Bauarbeitern ist dagegen zu prüfen, ob noch eine ausreichende Gang- und Standsicherheit für das Besteigen von Leitern und Gerüsten besteht (Einschränkungen bereits ab CIPN I möglich).
  • Bürotätigkeiten können dagegen in der Regel auch mit einer CIPN II durchgeführt werden.

Über die Begutachtung der Leistungsfähigkeit bei psychosomatischen und psychiatrischen Erkrankungen berichtete Prof. Dr. Rolf Schneider, ehemaliger Direktor der Neurologischen Klinik am Klinikum Aschaffenburg. Dabei müsse immer auch die Validität der angegebenen Beschwerden geprüft werden.

Bei körperlichen Beschwerden gebe es eine Reihe von Möglichkeiten in der neurologischen Diagnostik, um Inkonsistenzen aufzudecken. Auffällig seien etwa beim Finger-Nase-Versuch ein konstantes Vorbeizeigen ohne Besserung im Verlauf oder beim Romberg-Test ein Verschwinden der (angeblichen) Standunsicherheit bei Ablenkung.

Ein unkritischer Einsatz von neuropsychologischen Beschwerdenvalidierungstests sei dagegen nicht sinnvoll; diese machen nur Sinn, wenn kognitive Beeinträchtigungen geklagt werden. Die Ergebnisse liegen bei der Mehrzahl der Untersuchten im Grenzbereich oberhalb der Rate-Wahrscheinlichkeit. Zudem zeigen sich auffällige Befunde im Grenzbereich etwa bei Depressionen, Schmerzen oder Medikamenten-Nebenwirkungen.

Abschließend referierte der Autor über die – oft unterschätzte – Aktenbegutachtung in der Berufsunfähigkeits- und Krankentagegeldversicherung. Die Kurzfassung des Referats können Sie als Originalarbeit in diesem Newsletter nachlesen. (Beitrag: „Aktenbegutachtung in der privaten Berufsunfähigkeits- und Krankentagegeldversicherung“)

Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Rheumatologie, Sozialmedizin

Dr. Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner